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Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York

Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York

Titel: Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anja Reich
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fing schon wieder an, Fragen zu stellen. Diese verdammten Deutschen, kriegen den Hals nie voll.
Natürlich komme ich für einen Telefonanruf nun nicht mehr in Frage. Alle würden denken, ich riefe mein Magazin an, um eine Geschichte durchzugeben, ich bin im Gegensatz zu ihnen ganz freiwillig in diese Situation geraten. Ich bin beruflich hier. Ich kann auch keine Fragen mehr stellen, glaube ich. Ich hätte gern noch mit Eileen gesprochen, aber das ist momentan wohl ausgeschlossen.
    Die Sanitäter kommen nochmal wieder, um Garrin abzuholen, den asthmakranken Rechtsanwalt und Thomas-Mann-Liebhaber. Er nickt, als er an mir vorbeiläuft. Ich nicke zurück. Wir kennen uns, wir respektieren uns, der
Spiegel
ist ein angesehenes Magazin, könnte das bedeuten. Fontanec sieht es leider nicht. Er steht am Schreibtisch des Hausmeisters und schaut runter auf Eileen, die telefoniert. Wo ist eigentlich der Hausmeister, dessen Büro wir hier nutzen? An der Wand über seiner Werkbank hängt ein Fluchtplan. Wir sind im Temple Court Building. Das schreibe ich vorsichtig in meinen Block. Sammy Fontanec ist mit Eileen beschäftigt, er beugt sich ganz nah an sie heran. Sie sieht fassungslos aus und weint schon wieder.
    »Listen up, everybody«, ruft Fontanec. »Hört alle zu. Es gibt gute Nachrichten. Eileens Mann ist am Leben. Sie hat gerade mit ihm telefoniert. Er ist zu Hause.«
    Eileen McGuire nickt unter Tränen, sie schaut dankbar zu Sammy Fontanec hoch. David Liebman klatscht, und dann klatschen auch die anderen, ich sowieso. Ich klemme meinen Notizblock unter den Arm und klatsche begeistert. Sammy Fontanec strahlt. Er lacht mich an, ich lache zurück. Zwei Minuten später haut er mir auf die Schulter und sagt: »Nichts für ungut, du machst ja auch nur deine Arbeit.« Ich strahle und schaue auf das schwarze, klobige Telefon, aus dem die gute Nachricht kam. Ich komme nun auch wieder für einen Telefonanruf in Frage, aber andererseits muss ich noch mit Eileen McGuire reden, jetzt, da sie nicht mehr traurig ist, sondern froh und eine positive Geschichte hat. Sie erzählt mir, dass sie und ihr Mann bei
Marsh & McLennan
gearbeitet haben, einer großen Versicherungsfirma, die acht Etagen in der Spitze des Nordturmes gemietet hat. Eileen saß im 97. Stockwerk des Nordturms, ihr Mann im 99. Er fängt immer eine Stunde vor ihr an. Sie dachte also, er sitze schon lange in seinem Büro, als sie aus der Subway stieg und den Turm brennen sah. Aber er hatte heute Morgen einen Arzttermin, den sie vergessen hatte. Als er von dort kam, brannte der Turm bereits, und er fuhr nach Hause in die Upper East Side.
    »Ich habe mir Sorgen um ihn gemacht, und er sich um mich«, sagt Eileen McGuire. Ich nicke, auch wenn ich nicht richtig verstehe, wie der Mann nach Hause fahren konnte, wo er doch annehmen musste, dass seine Frau auf dem Weg zur Arbeit war, auf dem Weg in den brennenden Turm. Irgendwann werden sie sich diese Fragen stellen. Vielleicht werden sie nie darüber reden, aber die Fragen werden da sein, und wenn es schlecht läuft, zerstören sie eines Tages ihre Beziehung. Ich schaue auf das Telefon. Ich sollte wirklich zu Hause anrufen.
    Sammy Fontanec sagt, dass wir jetzt nach oben dürfen. Einer nach dem anderen. Die Luft ist rein.
The coast is clear.
Ich werde den Himmel wiedersehen. Auch gut. Telefonieren kann man dort oben immer noch. Wir gehen eine schmale Treppe hinauf in das Foyer des alten Gebäudes, das verlassen aussieht, so als wohne hier schon lange keiner mehr. Helles Licht fällt durch Glastüren, die teilweise mit Spanplatten vernagelt sind. Eileen McGuire verteilt Visitenkarten mit einer Anschrift, die es nicht mehr gibt. Sie ist
Vice President
, steht da, das klingt wichtig, obwohl man in Amerika nie genau weiß, was das bedeutet. Sammy Fontanec sagt mir die Telefonnummer seines Polizeireviers in Harlem. Er haut mir nochmal auf die Schulter. Alles ist gut. Ich habe das Bedürfnis, ihn zu umarmen. Ich würde wirklich gern jemanden berühren, jemanden festhalten. Aber das geht natürlich nicht. Wir stehen unschlüssig im Foyer. Wir gewöhnen uns an das Tageslicht und an den Gedanken, in eine andere, neue Welt hinauszugehen. Wir haben es überlebt. Wir waren zu„sammen auf einer Insel wie Schiffbrüchige und jetzt kommt das Boot und bringt uns von hier weg. Wir werden uns bestimmt nie wiedersehen. Wir wissen nicht, was dort draußen ist. Einen Moment noch, nur noch einen Moment.
     
     
     
    I ch schließe die Haustür auf,

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