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Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York

Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York

Titel: Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anja Reich
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rausgerannt, sie ist gesprungen. Ich bin Minerva, sie Michelle.«
    »Michelle und Minerva«, schreibe ich. Ich wage nicht, eine weitere Frage zu stellen.
     
     
     
    I ch sehe Ferdinand gleich, als er in den Raum einbiegt, und wie immer, wenn ich ihn sehe, würde ich ihn am liebsten sofort drücken und küssen, was ihm furchtbar peinlich ist vor anderen. Er trägt kurze Hosen, ein viel zu großes Star Wars -Shirt von Derek und seinen blauen Rucksack. Neben ihm läuft Ashley, die Tochter der Opernsängerin Beth, die in Debbies Laden aushalf, ein dünnes blondes Mädchen, das manchmal zum Spielen zu uns kommt. Sie ist seine Begleitung.
    Ferdinand faxt seiner Oma in Berlin, …
    »Hallo Ashley, hallo Ferdi«, sage ich.
    »Was ist denn los?«, fragt er und sieht mich wütend an. Er hat gerade mit Calvin ein Computerspiel angefangen, ein richtig cooles Computerspiel, sagt er.
    Ich winke Ashley zu, die wieder nach oben ins Klassenzimmer geht, streiche ihm übers Haar.
    »Komm«, sage ich, »ich erkläre dir gleich alles. Wir müssen erstmal Maschas Fahrrad holen.«
    Wir laufen an der Wachfrau vorbei durchs Foyer. Draußen, vor der kleinen Treppe, bleibe ich stehen und gehe in die Hocke vor Ferdinand, auf gleiche Augenhöhe.
    »Was ist denn los?«, fragt er wieder.
    »There is a big, big fire in Manhattan«, ruft Mascha.
    Das habe Mr. Polsky, ihr Sportlehrer, auch gesagt, als sie draußen, auf dem Hof, Dodgeball spielten und plötzlich Asche vom Himmel fiel, sagt Ferdi. Deswegen mussten sie mitten im Unterricht zurück ins Schulgebäude.
    … was am 11. September in New York passiert ist.
    »Was brennt denn?«, fragt er.
    »Das World Trade Center«, sage ich und erzähle, was passiert ist. Dass zwei Flugzeuge gekommen und in die Türme geflogen sind, nacheinander, und beide Türme eingestürzt sind. Und als ich es ausspreche, denke ich, dass Ferdinand es mir gar nicht glauben wird, weil es so absurd klingt, so unwirklich, wie eine Szene aus einem Actionfilm.
    »Beide Türme sind weg?«, fragt er.
    »Ja, beide.«
    Ferdinand starrt auf die Straße, ich halte mit der einen Hand seine Hand und mit der anderen Maschas Rad fest und habe Angst, dass er gleich anfängt zu weinen. Aber er sagt nur: »Dann ist jetzt das Empire State Building das höchste Gebäude der Stadt.«
    Das ist alles. Er weint nicht, er stellt keine Fragen, er läuft neben Mascha und mir mit seinem Rucksack die Straße entlang, ich habe keine Ahnung, was in ihm vorgeht. Ich weiß nicht, was ich ihm sagen soll. Er merkt natürlich, dass mit mir was nicht stimmt, er merkt so was immer. Er ist ein sensibler Junge, und ich bin keine amerikanische Mom , die ihren Kindern irgendwas vorspielt. Ich breche nicht in Jubel aus, wenn er es auf dem Spielplatz schafft, von einer Seite des Klettergerüsts zur anderen zu hangeln. Und ich kann nicht vor ihm verbergen, wenn ich traurig bin. Warum guckst du so traurig, fragt er mich manchmal und sieht mich prüfend an.
    Wenn Alex und er Game Cube spielen, und Alex flucht, weil er verliert, sagt Ferdinand, er solle sich beruhigen, es sei ja nur ein Spiel. Als ich mich neulich über seine Unordnung geärgert habe, hat er mir ein Erziehungsbuch empfohlen, das auch die Mutter seines Freundes Teddy gerade liest. Old soul , meint Debbie immer, Ferdinand sei ein kleiner Junge mit einer alten, weisen Seele.

 
     
     
    I
ch sammle kleine Geschichten, Fetzen von Geschichten, Namen, Polizei- und Telefonnummern, und spüre, wie ich so Kontrolle über den Raum bekomme. Ich habe einen Fuß in der Tür, ich habe Material im Korb, aus dem ich später etwas bauen kann, etwas formen. Ich fühle mich besser, kräftiger. Es ist das Blut der anderen, das mich stärkt, ich bin wieder ein Vampir. Ich halte nach den beiden Bauarbeitern Ausschau, mit denen ich auf der Türschwelle stand und mein Leben überdachte. Sie stehen zusammen neben einem Karton, in dem Trinkbecher der
US
Army liegen. Ein frischer Karton, der gerade von zwei Polizisten hereingetragen wurde. Steve Weiss fängt sofort an, die Becher im Raum zu verteilen. Trinkbecher der
Army
, mit Schraubverschlüssen. Wo kommen die eigentlich her? Egal. Ich nehme mir einen, er ist silbrigblau und ich werde ihn als Andenken behalten. Er wird Teil meiner Geschichte werden, und ich weiß das. Die Männer heißen Shaun Barrett und Paul Feeney. Sie warten darauf, dass das Telefon frei wird, an dem seit einiger Zeit eine ältere Frau sitzt, wahrscheinlich Minerva, die ihre Tochter Michelle

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