Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York
Die Stille ist weg, die weihnachtliche Stimmung ist verflogen. Leute mit einem Ziel, Leute mit einer Aufgabe hasten über die Straßen. Ich laufe ein paar Schritte, sehe zu, wie meine halbhohen, schwarzen Kenzo-Schuhe die Asche aufwirbeln. Dann gehe ich nochmal zurück, schreibe mir die genaue Adresse des Gebäudes auf, in dem wir waren. 5 Beekman Street. Das ist alles. Ich habe hier nichts mehr zu tun. Ich fühle mich nutzlos, kann das aber noch nicht akzeptieren. Ich laufe noch einmal zur St. Pauls Kirche und sehe auf die Trümmer, die vom World Trade Center übrig geblieben sind. Es ist nur ein kleiner Berg, wenn man bedenkt, wie hoch das Haus war. Überall wimmeln Polizisten und Feuerwehrmänner herum. Ich bin mir ziemlich sicher, dass die gesamte Innenstadt bereits abgesperrt ist. Ich bin noch drinnen. Wenn ich jetzt gehe, komme ich bestimmt nicht mehr zurück. Ich könnte Hilfskräfte interviewen, Aufräumarbeiten beobachten, auf die ersten Politiker warten, weiter recherchieren, mich verhalten wie ein
Spiegel
-Reporter, aber allein der Gedanke daran macht mich schwach. Ich habe nicht das Gefühl, noch irgendetwas aufnehmen zu können.
Am Broadway ist ein öffentliches Telefon, das unversehrt aussieht. Ich durchwühle meine Taschen und finde schließlich einen
Quarter
. 25 Cent. Ein Goldstück. Ich habe einen Anruf frei wie die Leute im Knast, nur den einen Anruf. Ich werde meine Frau anrufen, um ihr zu sagen, dass ich noch da bin, dass alles gut wird. Ich nehme den Hörer ab, werfe das Geldstück ein, es poltert und rastet in der Mechanik des Automaten ein. Als ich die
718
eingeben möchte, die Vorwahl von Brooklyn, fällt mir ein, dass ein Anruf in einen anderen Bezirk womöglich teurer ist als ein Anruf auf der Insel. Ich tippe also den Rückgabehebel, lasse den Vierteldollar herauspoltern, werfe ihn nochmal ein und wähle die Nummer meines Büros, um das letzte Geldstück nicht zu verschwenden.
Das ist zumindest das, was ich mir erzähle. Es ist das, was ich gleich meiner Kollegin vom
Spiegel
erzählen werde. Und ich habe das Gefühl, dass es auch das ist, was ich Anja und allen anderen später erzählen werde. Es ist eine Version. Ich weiß nicht, wie ich darauf komme, dass ein Telefonanruf nach Brooklyn teurer sein sollte. Aber da muss ein Zweifel sein. Es muss so sein. Eine andere Erklärung kann es nicht geben.
Im Dezember 1999 bin ich am Morgen, nachdem ich mit meiner Familie in New York eintraf, nach El Paso in Texas geflogen. Ich habe dort eine Reportage aus dem Naturschutzgebiet
White Sands
recherchiert, auf das damals immer wieder Teile einer nahegelegenen Testanlage für amerikanische Langstreckenraketen fielen. Es war ein früher Flug, als ich das Haus verließ, haben meine Frau und meine Kinder noch geschlafen. Als sie aufwachten, waren sie auf einem fremden Kontinent und ich schon wieder verschwunden. Es war der erste Morgen des großen Abenteuers, das ich ihnen versprochen hatte. Unser gemeinsames Abenteuer, aber ich war nicht da. Es war ein diesiger grauer Dezembertag in New York. Anja hat mir oft erzählt, wie verloren sie sich an diesem Tag in dem neuen Haus fühlte, in einer Gegend, wo sie niemanden kannte. Unsere Tochter krabbelte auf dem Teppich herum, unser Sohn schaukelte ganz allein im Hinterhof, und ich war auf dem Weg nach Texas. Ich weiß noch genau, wie ich mir den Mietwagen an dem kleinen Avis-Schalter in El Paso abholte und von da aus in die Wüste rollte. Die Luft roch trocken, die Sonne warf weißes Licht. Zwei Stunden Fahrt lagen vor mir, zu einem Ort, der Alamogordo hieß und in New Mexico lag, der Himmel war weit und offen. Ich war unglaublich glücklich. Wenn ich einem Psychiater erklären müsste, wann ich am glücklichsten bin, dann würde ich solche Momente beschreiben. Augenblicke, in denen ich durch eine fremde Landschaft rolle, in denen ich wegfahre, aber noch nicht da bin, um an Türen zu klopfen. Ich bin gern in Bewegung, und ich reise gern allein. Im Kino könnte man mich und Anja an unserem ersten amerikanischen Morgen im
Split Screen
zeigen, sie im diesigen New York, ich im sonnigen New Mexico, sie traurig, ich glücklich, und niemand würde verstehen, warum wir zusammen sind.
Ich weiß schon, dass etwas nicht stimmt, in diesem Moment, als ich die Münze aus dem Fach hole und sie nochmal einwerfe. Ich denke wirklich daran, nicht das Geldstück zu verschwenden. Ich denke wirklich, dass es so sicherer ist. Ich werde meine Kollegin aus dem Büro bitten,
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