Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York
Ferdinand stellt seinen Rucksack ab, guckt ins Wohnzimmer, sieht die Treppe hinauf. Wenn Alex da wäre, würde er spätestens jetzt aus seinem Arbeitszimmer nach unten gepoltert kommen, um die Kinder zu begrüßen.
»Wo ist Papa?«, fragt Ferdinand.
»Papa ist in Manhattan«, sage ich und setze gleich wieder meine Sonnenbrille auf, weil mir die Tränen in die Augen schießen.
»Das ist alles meine Schuld«, sagt er.
»Was ist deine Schuld?«, frage ich.
»Dass die Twin Towers umgefallen sind.«
»Was?«
»Weißt du noch«, sagt er, »ich habe dich gefragt, ob sie umfallen können.«
»Ja«, sage ich, weil es stimmt. Er hat mich das oft gefragt. Genauso, wie er mich gefragt hat, wie die Titanic untergegangen ist und wann er endlich den Film mit Leonardo di Caprio sehen darf, welches Tier für das Stück Fleisch auf seinem Teller sterben musste und ob unser Flugzeug abstürzt, weil es so wackelt, und ob uns dann die Haie fressen.
Ferdinand und Anja vor der Schule.
Ferdinand fragt mich dauernd Sachen, die ich nicht genau weiß: Dauert es noch lange, bis wir da sind? Gibt es Seemonster im Meer? Was passiert, wenn man einen Schneeball vom Empire State Building wirft und jemand den auf den Kopf kriegt? Ich antworte oft wider besseren Wissens: Nein, das Flugzeug stürzt nicht ab. Ja, wir sind gleich da. Nein, die Haie fressen uns nicht. Ich sage das, was ihn am wenigsten beunruhigt. Er merkt das. Er macht sich seine eigenen Gedanken.
Ich weiß noch, wie enttäuscht er war, als wir hier ankamen und er feststellte, dass in Brooklyn alles so klein ist. Vor unserem Umzug hatten wir ihm Bilder von Manhattan gezeigt, der Stadt der Wolkenkratzer und Häuserschluchten, und nun wohnten wir in einem Reihenhaus mit Garten und das höchste Haus weit und breit war das ehemalige Bankgebäude in der Atlantic Avenue, in der Dr. Klemons, unser Zahnarzt, seine Praxis hat. Man kann die Freiheitsstatue, einen Zipfel von Manhattan und die Flugzeuge in Newark starten und landen sehen, wenn Dr. Klemons die Backenzähne reinigt und dabei unsere alten Ostamalgamfüllungen bewundert.
Ferdinands Gedicht: »The City«.
Ferdinand geht gerne zu Dr. Klemons. Er hat gute Zähne und genießt die Aussicht. Er steigt auch gerne mit Alex auf unser Dach oder geht mit Mascha und mir auf den Spielplatz an der Promenade in Brooklyn Heights, weil man von dort aus nach Manhattan schauen kann.
Er hatte es schwer zum Anfang. Er konnte kein Englisch, die Kinder in seiner neuen Schule verstanden ihn nicht, und er verstand sie nicht. Manchmal sagten sie ihm Schimpfwörter auf Englisch, die er nachsprechen sollte. Und dann lachten sie. Wenn er nach Hause kam, setzte er sich an seinen Schreibtisch und malte die hohen Häuser. Das muss ihm irgendwie geholfen haben. Seine Großeltern waren weit weg, seine Freunde auch. Aber hier hatte er die Türme. Auf seinen Bildern fliegen dicke schwarze Flugzeuge auf sie zu, und auf einem springen kleine Menschen von einem Turm herunter. Flying Land hat er das Bild genannt.
Vor einem Jahr ungefähr hat er die Türme aus Legosteinen gebaut, zwei hohe rote Türme, einer mit Antenne obendrauf. Wochenlang standen sie in seinem Zimmer, sie störten beim Staubsaugen, aber er wollte nicht, dass ich sie wegräume. Er wollte sie selbst, nun ja, wegräumen. Er nahm sich aus Alex' alter Matchboxkiste ein Flugzeug, holte weit aus und stach mit dem Flugzeug genau in die Mitte der Türme. Sie fielen um.
Er hat auch zwei Twin Tower -Gedichte geschrieben im letzten Jahr, als sie mit Mr. Terry Gedichteschreiben übten. Sie stehen in seinem schwarzen Englischheft.
The City (1)
The Twin Towers are high
which reach up to the sky
And if it falls down
It's gonna fall down on a clown
The City (2)
The city, the city, the city
Cars driving and people yelling
And people yelling on top of the Twin Towers
Es ist nicht deine Schuld. Du warst in der Schule, als es passiert ist, du hattest damit nichts zu tun«, sage ich.
»Aber ich habe gedacht, dass es passieren könnte«, sagt er, dreht sich um und rennt raus in den Garten. Ich gehe ihm hinterher. Und erst jetzt fällt mir auf, dass die Anzeige vom Anrufbeantworter blinkt.
D
er Himmel strahlt gleichgültig, fast gewissenlos blau, die Straßen sind immer noch verschneit, direkt vorm Ausgang des Temple Court Buildings liegt ein roter, hochhackiger Damenschuh wie ein Ausstellungsstück, eine Schaufensterdekoration. Der Schuh stammt aus einer anderen Zeit.
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