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Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York

Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York

Titel: Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anja Reich
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interviewte prominente amerikanische Anwälte in New York, Kalifornien, Florida und Arkansas, besuchte in Louisville, Kentucky, alle Mitglieder einer Jury, die in einem Mordprozess die Münze warfen, weil sie sich nicht entscheiden konnten, ob der Täter schuldig oder unschuldig war. Ich befragte eine Polizistenwitwe in New Jersey, was es für sie bedeutete, dass der Mörder ihres Mannes 41 Jahre nach der Tat gefasst wurde. Ich suchte in den Tunneln, Schächten und Kellern unter New York nach den legendären Ratten, denen der Bürgermeister von Gotham den Kampf angesagt hatte. Ich lernte im Norden von Texas einen alten Mann kennen, der als Soldat bei der Befreiung von Leipzig das Ehrenbuch der Stadt mit der Unterschrift Hitlers geklaut hatte, es bis vor Kurzem in seiner Wohnzimmervitrine aufbewahrt hatte und das nun wieder in Leipzig war, wo ich wenig später das Hörbuch zu meinem Roman vorstellte. Ich redete mit Sexualstraftätern in Corpus Christi, Texas, die von einem ultrakonservativen Richter dazu verdonnert worden waren, Schilder in ihren Vorgärten aufzustellen, auf denen sie vor sich selber warnten, flog nach Hamburg, um einen Preis für die Reportage über Angela Merkel entgegenzunehmen, schrieb dort die Reportage über die texanischen Sextäter und ihren Richter zu Ende und flog am nächsten Morgen mit Gregor Gysi nach Rom, wo er den Chef der italienischen kommunistischen Partei traf. Ich sprach am Ku'damm mit dem Anwalt von Nadja Bunke und in Los Angeles mit dem Produzenten, der das Leben ihrer Tochter verfilmen wollte.
    Ich bin seit knapp zwei Jahren für den
Spiegel
in Amerika. Ich bin gleich am Anfang in die Wüste gefahren und dort verloren gegangen. Meine Kinder sprechen jetzt fließend Englisch, meine Frau stellt mir in unserem Hinterhof die Nachbarn vor, die mich ansehen, als hätten sie schon viel von mir gehört. Auf der Straße in Brooklyn grüßen mich Menschen freundlich mit meinem Vornamen, deren Gesichter mir nichts sagen.
    Hi, Alex.
    Oh, hi,
sage ich, lächle und laufe weiter. Es ist okay. Alles hat seinen Preis, und ich wollte es so. Wie der Indianer Mark White Bull versuche ich mich angemessen zu verhalten, aber es ist nicht leicht. Wild ist der Westen und schwer ist der Beruf.
    Der Vierteldollar fällt, es meldet sich eine Frauenstimme. Es ist nicht die meiner Frau Anja, sondern die meiner Kollegin Sabine aus dem
Spiegel
-Büro.
    »Alexander!«, sagt sie. Ich höre sofort die Erleichterung und ahne, dass sie schon ein paar Mal mit meiner Frau telefoniert hat, was es natürlich nicht besser macht. Es ist eine subtile Art von Ehebruch, der hier gerade stattfindet. Dass Sabine am anderen Ende des Telefons ist, ist Zufall. Ich betrüge meine Frau, wie gesagt, schon viel länger.
    Sabine hilft manchmal im Büro aus, sie arbeitet eigentlich als Filmproduzentin. In New York machen viele Leute oft nicht das, weswegen sie eigentlich hergekommen sind. Die wenigsten Filmproduzenten können es sich leisten, als Filmproduzenten zu leben, glaube ich. Und weil Angelika, unsere Bürochefin, gerade in Hamburg ist, nimmt nun Sabine ab. Obwohl ich Sabine selten sehe, kenne ich sie von all meinen Kollegen am besten. Sie kommt aus dem Osten wie ich, sie lebt mit einem Ostdeutschen zusammen. Sie wohnt seit über zehn Jahren in New York und hat den romantischen Blick auf Amerika, den ich auch habe. Für sie ist New York Neuanfang, Abenteuer, Zukunft und nicht nur irgendein Karriereschritt oder ein lässiger Platz zum Leben. Kurz bevor ich nach New York zog, hat mir eine Redakteurin des
Tagesspiegel
erzählt, dass sie einen Artikel über die Amerika-Faszination der Ostdeutschen plane. Ich habe spöttisch reagiert, aber eigentlich finde ich es schade, dass sie den Artikel dann nie geschrieben hat. Ich glaube nämlich, dass die Ostler wirklich ein anderes, ungetrübteres Amerikabild haben als die Westler. Ich habe das Land, das ja eigentlich unser Klassenfeind war, nur in Büchern, in Filmen und in Liedern bereist. Es war mein gelobtes Land, ein Paradies, von dem ich nie annahm, es während meiner Lebenszeit besuchen zu können, und ich glaube, Sabine geht es ähnlich. Dazu kommt noch der Thüringer Dialekt. Das ist alles sehr vertraut. Ich kann mir gut vorstellen, dass sie meine kleine 25-Cent-Geschichte sofort durchschaut. Sie klingt verwundert, als ich sie bitte, bei mir zu Hause anzurufen.
    »Ich hatte nur noch den einen
Quarter

    »Ach?!«
    »Und mein
cellphone
geht ja nicht.«
    »Nee, die gehen

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