Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York
sofort meine Frau anzurufen, um ihr zu sagen, dass alles in Ordnung ist. All das denke ich. Aber die Wahrheit ist, dass ich es mir zurechtlege. Ich erkläre mir, dass ich vernünftig und verantwortungsbewusst handle, während ich die Nummer meines Büros in Manhattan wähle. Ich möchte ja auch, dass ich irgendeinen Sinn ergebe, als Mensch, als Mann und als Vater.
Das ist meine kleine 25-Cent-Geschichte.
It's the story of my life
.
Damals in New Mexico, im Dezember 99, als ich mit einem
Park Ranger
durch die weißen Dünen von
White Sands
lief und Anja mit den Kindern jeden Morgen in einem fremden Haus erwachte, rief mich ein stellvertretender Chefredakteur des
Spiegel
an und bat mich, etwas über eine Indianerin zu schreiben, die nach 16 Jahren gerade aus dem Koma erwacht war. Das sei in Albuquerque, New Mexico passiert.
»Sie sind doch in New Mexico?«, fragte er mich.
»Ja«, sagte ich.
»Das ist ein Weihnachtswunder«, sagte der Chefredakteur.
»Weihnachtswunder, klar«, murmelte ich und dachte daran, dass ich noch keinen Baum gekauft hatte und wir diesmal ganz allein feiern würden, zum ersten Mal ohne die Großeltern. Später im Motelzimmer fand ich heraus, dass Albuquerque ungefähr sechs Autostunden von Alamagordo entfernt ist. New Mexico ist ein sehr großer Bundesstaat. Ich machte mich trotzdem auf die Reise.
Ich fuhr durch die Wüste, besuchte das Krankenhaus, in dem die Indianerin schlief. Vor ihrer Zimmertür wachten zwei befreundete Indianer, die mich nicht zu der Frau vorließen. Ich fand aber heraus, dass sie vor 16 Jahren bei der Geburt ihres vierten Kindes ins Koma fiel, das sie von einem Sioux-Indianer empfangen hatte, der inzwischen in einem Reservat in North Dakota wohnte. Ich flog also aus dem heißen New Mexico ins bitterkalte North Dakota und redete mit dem Indianer, der einst der Mann der Weihnachtswunderfrau gewesen war. Er hieß Mark White Bull und hatte, während seine Frau schlief, angefangen zu trinken und wieder damit aufgehört, er hatte andere Frauen geheiratet und verlassen sowie weitere Kinder gezeugt, er war von New Mexico nach North Dakota gezogen. Er hatte ein neues Leben begonnen und versuchte sich nun, nachdem seine Exfrau erwacht war, dem alten gegenüber angemessen zu verhalten. Ich verstand ihn sehr gut.
Als ich den Indianertext in einem Motel schrieb, das zu einem Casino im Reservat
Standing Rock
gehörte, erreichte mich die Bitte meines Hamburger Ressortleiters, ein Porträt über Angela Merkel zu schreiben, die gerade CDU-Parteivorsitzende geworden war. Ich flog zurück nach Deutschland, von New York direkt zum Kreisparteitag der CDU Vorpommern in Grimmen. Zweieinhalb Wochen lang beschäftigte ich mich mit Angela Merkel, während mein Sohn schweigend in seiner ersten Klasse in Brooklyn saß, meine Tochter eine russische Kinderkrippe in Carroll Gardens besuchte und meine Frau versuchte, Nachbarn kennenzulernen. Ich kam kurz nach Hause, dann flog ich nach Lajitas, im südlichsten Zipfel von Texas, wo ein ganzes Dorf an einen Milliardär verkauft worden war. Ich besuchte Teófilo Stevenson auf Kuba, Franziska van Almsick in Berlin-Hohenschönhausen und den Ausdauerläufer Dieter Baumann in St. Moritz. Ich fuhr mit einer lungenkrebskranken ehemaligen Raucherin aus einem Dorf an der Westküste Floridas zum größten Schadenersatzprozess gegen die amerikanische Tabakindustrie, den es je gab, nach Miami und flog anschließend zu den Olympischen Spielen nach Sydney und von da zur Buchmesse nach Frankfurt, um meinen ersten Roman vorzustellen. Nach St. Moritz begleitete mich meine Frau, damit wir in meinem ersten Sommer beim
Spiegel
wenigstens etwas zusammen machten. Vor der Buchmesse befragte ich Sebastian Junger in Chelsea, Benjamin von Stuckrad-Barre in Berlin Mitte, Gay Talese in seinem Sommerhaus in New Jersey und Judith Hermann in ihrer Wohnung am Helmholtzplatz nach der Grenzlinie zwischen Literatur und Journalismus, nach der Buchmesse begab ich mich auf eine Wahlkampftour mit Hillary Clinton und Rudolph Giuliani, die damals beide Senatoren von New York werden wollten. Anschließend recherchierte ich in Kanada, Berlin, Wien und Moskau die Geschichte eines internationalen Raumfahrtexperimentes im Moskauer Sternenstädtchen, in dem eine kanadische Astronautin gegen ihren Willen von einem angetrunkenen russischen Kosmonauten geküsst worden war. Von da aus flog ich nach Miami, wo Boris Becker vor einem amerikanischen Gericht in einem Sorgerechtsprozess aussagte. Ich
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