Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York
nicht.«
Ich erzähle schnell, dass ich die letzte Stunde im Keller saß. Sie sagt mir, dass Thomas bereits wieder zu Hause ist. Ich bin erleichtert. Erstens, weil er lebt, und zweitens, weil er nicht dichter dran war als ich. Beides, wirklich.
»Was machst du?«, fragt sie.
»Ich weiß nicht«, sage ich. »Was machst du denn?«
»Ich bleibe erstmal hier. Kerstin ist heimgefahren. Wir müssen ja mal sehen, was die in Hamburg jetzt wollen.«
»Ja«, sage ich. Hamburg. »Was sagen die denn?«
»Sie wollen wissen, was ihr gerade macht«, erwidert sie.
»Klar«, sage ich. »Ich glaube, ich gehe erstmal zu Thomas. Da können wir dann ja beraten, was wir machen. Die Brücken sind sowieso noch gesperrt.«
»Ja?«
»Ich glaub' schon.«
»Gut!«
»Ruf' Anja an, bitte.«
»Mach ich«, sagt sie. »Pass auf dich auf.«
»Du auch.«
I ch stehe vor dem Telefon und schaue auf die rote Lampe. Es gibt eine neue Nachricht. Mascha wartet neben mir, sieht mich an. Ich weiß nicht, ob ich die Nachricht hören soll. Ich stehe einfach nur da. Vielleicht löse ich irgendeine Katastrophe aus, wenn ich den Anrufbeantworterknopf drücke. Es kostet mich unglaubliche Anstrengung, den Arm zu heben, den Finger zu strecken und die Taste zu drücken, aber schließlich schaffe ich es.
»Hallo, hier ist Sabine vom Spiegel -Büro … Hallo? … Na … … … Hallo??? … Hier ist es kurz vor 12, so acht Minuten vor 12 … Und Alexander rief gerade an … Er ist okay! Alles ist okay! Und er ist auf dem Weg zu Thomas Hüetlin, der ist in der 12. Straße, und seine Nummer hast du ja. Du kannst auch gerne im Büro anrufen. Ich bin hier.«
Ich drücke die Wiederholungstaste und höre mir die Nachricht nochmal an. Sabines Stimme ist leise, ihr Thüringer Dialekt klingt weich und vertraut. Ich stehe zwischen Küche und Wohnzimmer vor dem CD-Turm, auf dem sich unser Telefon befindet, und denke, dass das die schönste Nachricht ist, die ich je in meinem Leben bekommen habe.
Ich nehme Mascha auf den Arm, gehe auf die Terrasse und rufe Ferdinand im Garten zu: »Papa ist da«, was natürlich Unsinn ist, aber Ferdinand hat sowieso nichts verstanden, weil aus dem Rufen nur ein Flüstern geworden ist. »Papa«, konnte ich noch sagen, dann war meine Stimme weg.
»Papa?«, fragt Ferdinand von unten.
»Papa ist auf dem Weg zu seinem Kollegen. Alles ist okay«, wiederhole ich Sabines Worte.
Ich habe Sabine noch nie persönlich getroffen. Ich kenne sie nur aus Alex' Erzählungen. Ich weiß, dass sie vor dem Mauerfall in den Westen ausgereist ist und später mit ihrem Freund nach New York zog, wo sie als Filmproduzentin arbeitet und manchmal beim Spiegel aushilft, als Urlaubsvertretung. Sie ruft an, wenn sie Alex sprechen will. Ich rufe an, wenn ich Alex sprechen will. Wir tauschen ein paar Sätze aus. Sie fragt, ob wir uns gut eingelebt haben.
Ich erzähle ihr von der Schule oder wie schwer es ist, eine Autoversicherung zu bekommen, wenn man nur einen deutschen Führerschein hat. Sie gibt mir Tipps. Unsere Unterhaltungen sind manchmal dienstlich distanziert, manchmal vertraut. Alex ist Sabines Kollege, ich bin die Frau des Reporters, aber ich bin auch eine Deutsche, die versucht in New York klarzukommen, wie Sabine vor vielen Jahren. Das verbindet uns.
Als Kind habe ich mir oft vorgestellt, wie es sein wird, der Moment, wenn ich etwas ganz Besonderes erfahre, mir jemand einen Heiratsantrag macht oder mir der Frauenarzt mitteilt, dass ich ein Kind bekomme. Später habe ich darauf gewartet, dass mir jemand ein tolles Jobangebot macht oder verkündet, dass ich einen Preis gewonnen habe. Es war immer ganz anders, als ich gedacht habe. Einen Preis habe ich nie gewonnen, meine Jobs habe ich mir hart erarbeitet. Schwanger bin ich geworden, weil ich die Pille absetzte, nachdem mir ein Ostberliner Frauenarzt mitgeteilt hatte, ich könne keine Kinder bekommen. Der Mann, der hollywoodreif um mich geworben hat, kam für mich nicht in Frage und der, den ich wollte, hat mir in einer Silvesternacht beim Tanzen ins Ohr geflüstert: »In diesem Jahr müssen wir heiraten, Anni.«
Ich höre Sabines Nachricht gleich nochmal ab und nochmal, dann rufe ich Sabine an. Sie sagt, Alex habe im Büro angerufen, weil er nicht wusste, ob er zu mir nach Brooklyn durchkommt. Er habe nur noch einen Quarter gehabt. Ich überlege kurz, ob mich das stört, Sabine hebt es so hervor. Da ist aber nichts, kein Stich im Herzen, keine Enttäuschung. Alex ist wieder da, das ist
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