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Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York

Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York

Titel: Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anja Reich
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alles, was zählt.
    »Es hat ihn wirklich fast erwischt«, sagt Sabine. Er war ganz dicht am Nordturm, als der zusammenfiel. Sie erzählt von einem Mann, der ihn weggeschickt hat, und von einem Keller, in dem Alex Schutz fand. So, wie sie es erzählt, klingt es ganz logisch, ganz folgerichtig, dass Alex versucht hat, in den Turm zu gehen, um zu sehen, was los ist, und später darüber zu schreiben.
    Ich habe plötzlich unglaublichen Hunger. Meine Freundin Tinna hat mir vorhin am Telefon gesagt, dass sie jetzt erstmal mit Vincent in einen Diner auf der 7 th Avenue geht, um ein Sandwich zu essen. Vincent ist ihr neuer Freund, ein irischer Barkeeper. Ich weiß nicht genau, was für ein Sandwich sie im Sinn hatte, aber ich stelle mir ein BLT vor. Bacon, Lettuce, Tomatoes. Schinkenspeck, Salat, Tomaten. Das wär's doch: Ich sitze mit einem Liebespaar auf roten Ledersitzen, draußen fällt Asche vom Himmel und wir beißen in unsere Sandwiches. Vielleicht ein Glas Wein dazu. Das ist so, habe ich gelesen, Frauen gehen tanzen, wenn an der Front der Krieg tobt. Die Frau eines Feuerwehrmannes, dessen Kinder in Ferdinands Schule gehen, hat um elf Uhr morgens das erste Glas Wein getrunken, weil sie nicht wusste, ob sie jemals ihren Mann wiedersehen wird. Dann hat sie mit Freunden Rommé gespielt, einfach, um irgendwas zu tun zu haben.
    Ich schaue kurz auf die offene Weinflasche im Küchenregal, die von gestern Abend übriggeblieben ist. Aber dann höre ich die Kinder im Garten und trinke schnell ein Glas Wasser.
     
     
     
    I
ch fange an zu laufen. Zum ersten Mal seit zwei Stunden habe ich das Gefühl, dass sich die Dinge wieder einigermaßen ordnen. Ich weiß immer noch nicht genau, was eigentlich passiert ist, aber ich habe zumindest einen Plan. Ich kenne die nächsten Schritte. Zu Thomas gehen. Thomas wohnt mit seiner Familie in der zwölften Straße. Das ist eine halbe Stunde Fußweg. Ich laufe aus dem Schnee hinaus. Die Asche verschwindet und mit ihr die Aufgeregtheit.
    Es gab mal eine Fernsehwerbung für irgendwelche Universalreifen, in der ein Auto aus den tiefverschneiten Bergen immer mehr in die Stadt rollt. Am Ende sieht man nur noch an den Dreckspritzern auf dem Lack, dass es eine weite Reise hinter sich hat. Dieses Auto bin ich. Die Straße wird immer sauberer und meine Schuhe werden immer schmutziger. Ich bin stolz auf meine staubigen Sachen, denn ich komme aus der Wüste wie Ralph Fiennes in
The English Patient
. Auch ich habe eine Geschichte, wenn auch keine romantische. Ich sehe an mir herunter, immer wieder. Es fahren keine Autos, die Straßen sind überhaupt seltsam leer, man sieht keine Krankenwagen oder Panzer oder was immer man in solchen Stunden erwarten würde, nur ab und zu jagt ein Feuerwehrauto vorbei und man hat stets das Gefühl, dass es zu spät kommt. Die Menschen auf den Bürgersteigen stehen zusammen, unterhalten sich, die Gesichter nach Downtown gerichtet. Sie haben jede Eile verloren, und so erinnern Soho, der Washington Square und das Greenwich Village an Dörfer. Manchmal sieht mich jemand mitfühlend an. In einem Hauseingang steht eine dunkelhaarige Frau mit einem Kaffeebecher und schaut mir direkt in die Augen. Ich schaue zurück und denke daran, sie zu küssen. Einfach hingehen, die Frau küssen und dann weitersehen. Ein neues Leben anfangen, vielleicht. Ich bin 39 Jahre alt, die Welt ist aus den Fugen. Für ein oder zwei Sekunden verlangsame ich meinen Schritt, dann gehe ich weiter.
    Die Leute stehen in ihren sauberen Sachen auf der Straße und schauen auf die Katastrophe am Horizont. Sie sind nur Zaungäste, sie haben doch nichts erlebt, denke ich, nicht mal die Rauchwolke zieht in ihre Richtung, sie zieht nach Brooklyn.
     
     
     
    I ch gehe mit Mascha auf die Terrasse und sehe hinunter in den Garten. Ferdinand sitzt auf der Schaukel, ohne zu schaukeln, er stochert mit einem Stock in der Pfütze unter seinen Beinen herum. Die Pfütze hat das Gewitter von gestern Abend hinterlassen, dieses gewaltige, unheimliche Gewitter, das mir jetzt noch unheimlicher vorkommt, weil ich denke, dass es diesen Tag schon angekündigt hat. Ich nehme das Mückenspray, das wir aus Deutschland mitgebracht haben, hinterm Grill hervor, sprühe Mascha die nackten Füße und Arme ein und laufe die Treppe hinunter zu Ferdinand. Das Gras ist schon wieder trocken, das bisschen Gras, das noch übrig ist. Unser Garten ist – wie immer um diese Jahreszeit – in einem erbärmlichen Zustand. Das Gras gelb, die Blumen

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