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Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Titel: Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Levi
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verspürte, lange darüber zu sprechen. Doch jetzt war der Zeitpunkt gekommen, es zu sagen. In dieser Situation waren direkte Worte am geeignetsten. Da brauchte es keine Fragen, keine detaillierten Erläuterungen.
    »Wir haben sie schon lange begraben … Sie wird bestimmt auch im Jenseits meinen Vater nicht in Frieden lassen! …«
    Necmi nickte lächelnd … Das genügte. Ein Satz umfaßte alles, was ich sagen mußte. Ich wurde ein wenig traurig. Doch ich mußte ihm auch zeigen, daß ich mich über die Todesfälle nicht dermaßen grämte. Und insbesondere mir selbst … Um mich in den mir verbleibenden Lebenstagen mit dem Kampf, von dem ich nicht wußte, wie und wie weit ich ihn führen würde, besser aussöhnen zu können … Auch diese unerwartete Erschütterung dauerte nur ein paar Augenblicke. Es war möglich, sich mit einem Scherz wieder von der Erschütterung zu befreien. Ich mußte mich auch nicht sehr anstrengen, für diesen Scherz eine Zielscheibe zu finden. Ich spielte Necmi, der gerade wie ich ein wenig traurig war, aber lächelnd seine Gabel balancierte, den Ball zu, selbst wenn ich seine Reaktion im voraus kannte.
    »Deine Mutter ist aber kerngesund, toi toi toi! …«
    Er lächelte. In seinem Ton lag wieder Neckerei.
    »Die stirbt nicht! … Ehe wir nicht tot sind, stirbt sie nicht! …«
    In dieser Neckerei lag kein Zorn. Nur Spaß. Ein Hauch von Schabernack. Und sogar Liebe. Eine Liebe, die wir noch einmal teilen konnten, und die Verbundenheit mit einem Leben, mit unserer Vergangenheit, unseren Erinnerungen und unserer gesamten Gemeinsamkeit. Ermutigt durch diese Verbundenheit, wiederholte ich seine Worte.
    »Fatoş Abla stirbt nicht! … Fatoş Abla stirbt nicht! …«
    Auch er wiederholte dieselben Worte. Wir lachten wie zwei unartige Kinder. Als wollten wir unsere kindische Seite nicht auch noch verlieren, nach allem, was wir verloren hatten …
    Çela war von dieser Szene einerseits verblüfft, andererseits zum Lachen gebracht, und anscheinend war sie auch etwas verärgert. Sie schaute mich vorwurfsvoll an und maßregelte uns beide mit liebevoll strengen Worten:
    »Wie redet ihr denn! … Was wollt ihr denn von der Frau!«
    Unter dem Eindruck dieses Tadels grinsten Necmi und ich uns an. Dann hielten wir es nicht länger aus und begannen wieder zu lachen, wobei wir im gleichen Takt die Worte ›Fatoş Abla stirbt nicht! … Fatoş Abla stirbt nicht! …‹ wiederholten. Dieses Mal fing auch Çela zu lachen an. Die Mauer der Fremdheit war nun schon ziemlich brüchig. Noch einmal erhoben wir unsere Gläser ›auf das Leben‹. Wir versuchten ernst zu sein, doch es gelang uns irgendwie nicht. Nach all der Spannung war das normal. Schweigend aßen wir, alle drei in Gedanken versunken. Natürlich konnte ich nicht wissen, was die andern dachten. Ich dachte an jenen Kampf, den ich so gut wie möglich für mich behalten und in mir lebendig erhalten wollte. Das wußte ich, ich konnte es mir wenigstens selbst sagen. Çela brach das Schweigen, als sie den Kelch auf Necmi erhob. Sie war bewegt. Selbst wenn sie nichts gesagt hätte, hätte ich ihr ihre Bewegtheit angesehen. Ihre Worte zeigten, daß ich mich nicht geirrt hatte.
    »Willkommen, Necmi! Wie gut, daß du gekommen bist. Dieses Haus war schon lange nicht mehr so fröhlich. Du hast eine Farbe in unser Leben gebracht …«
    Lag in diesen Worten ein Vorwurf oder Liebe, Herzlichkeit, ich fand es nicht heraus. Augenscheinlich malte sie damit das Bild unserer Ehe, stellte es offen aus. Zuerst war es mir unangenehm. War es mir unangenehm, daß sie laut über unser jahrelanges Miteinander nachdachte? … In dem Moment, als ich mir diese Frage stellte, wurde mir klar, daß ich unrecht tat. Was wollte ich denn vor wem verbergen? … War meine Absicht denn nicht, daß auch die Frau, mit der ich all die Jahre mein Leben geteilt hatte, über diese Brücke der Aufrichtigkeit ging? … Diesen Schritt hatte sie getan, was wollte ich mehr? … So konnte ich mein Unbehagen leicht abstreifen und diesen Schritt als eine Möglichkeit oder zumindest eine Chance für eine Dreierfreundschaft betrachten. Ich hatte keinen Zweifel, daß Necmi auch so fühlte. Zudem bedeutete seine Antwort, daß er ebenfalls einen Schritt tat. Er nahm seinerseits einen Pinsel in die Hand in Beziehung auf das Bild seines eigenen Lebens.
    »Ach wenn doch auch ich die in mir versteckte Farbe wiederfinden könnte …«
    Daraufhin wurden wir unwillkürlich ernst. Die Wirkung dieser Worte spiegelte

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