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Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Titel: Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Levi
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Ihre Familie, ihr Heimatland riefen sie. Offen gesagt hatte auch ich mich in Frankreich nicht eingelebt, obwohl ich schon so viele Jahre dort war … Das Leben war nicht so, wie man es uns auf dem Gymnasium erzählt hatte, selbst die Sprache war nicht so, wie man sie uns gelehrt hatte. Ich setzte mich hin, um nachzudenken, und fand langsam den Gedanken verlockend, nach Athen zu gehen. Ich würde keine großen Sprachschwierigkeiten haben, würde mich in kurzer Zeit eingewöhnen. Nun, einen Beruf hatte ich ja auch … Und meine Frau sagte, wir könnten mit Hilfe ihres Vaters an einer guten Stelle einen kleinen Teppichladen aufmachen. Ich erklärte Monsieur Tahar meine Situation. Ich hatte gewußt, er würde traurig sein, doch ich konnte wirklich nicht ahnen, daß dies sein Leben verändern würde. Eines Morgens sagte er, er glaube, ich habe für meine Zukunft die richtige Entscheidung getroffen, doch er könne nun nicht wieder allein leben. Nach Tagen des Nachdenkens war auch er zu einem Entschluß gelangt. Er würde seinen Laden schließen, sein Haus verkaufen und mit seinem bißchen Geld zurück nach Tunesien gehen. Es war Zeit, mit seinen alten Freunden, die er jahrelang nicht gesehen hatte, mit denen, die noch am Leben waren, über die Vergangenheit und über das Leben zu plaudern … Ich sollte die Teppiche aus dem Laden nach Griechenland mitnehmen. Das sollte mein Startkapital sein. Das war es, was er geben konnte, nur das. Was konnte ich sagen? … In Wirklichkeit schenkte er mir sehr viel, mehr als diese Teppiche, er tat, was ein Vater, ein richtiger Vater, tun würde. Schon längst hatte er mich ja gelehrt, das Leben mit anderen Augen anzusehen, gelehrt, daß die Gier den Menschen zerstört, mich mit Liebe zu leben gelehrt. Als ich seine Worte hörte, umarmte ich ihn innig. Vielleicht war es mir ja gelungen, ihm den erwünschten Sohn zu schenken. Die Beziehung zwischen uns war eine derartige Beziehung. Natürlich half ich ihm beim Verkauf des Hauses und beim Packen. Ich hätte ihn auch nach Tunesien gebracht, wenn er gewollt hätte. Doch er wollte lieber alleine zurückkehren auf dem Weg, den er gekommen war. Wie Du Dir vorstellen kannst, war der Abschied nicht leicht. Er wußte, er würde nicht mehr lange leben. Dennoch war er glücklich. Er sagte, er werde nun mit seiner Frau wieder vereint sein, nach der er sich so sehne. Sein einziges Problem sah er darin, daß er so alt war. Seine Frau sei ja jung und schön geblieben. Würde sie ihn in diesem Zustand mögen, akzeptieren? … Er hatte da seine Bedenken. Selbst in so einer Lage hörte er nicht auf, sein Leben wie eine Erzählung zu betrachten, voll Humor und Poesie. Vielleicht ließ ihn diese Eigenschaft noch etwa zwei weitere Jahre an dem Ort leben, wohin er gegangen war. Nachdem ich nach Athen übersiedelt war, besuchte ich ihn noch zweimal. Als ich das letzte Mal hinkam, hatte er ein dickes Gedichtbuch in der Hand, das er, wie er sagte, von einem Freund übernommen hatte. Die Schriftzeichen waren arabisch. Ich fragte, von wem das Buch sei. Er lächelte und sagte: »Das ist das erhabene Mesnevi von Mevlana. Dies ist das letzte Buch, das ich lese …« Ich war sehr beeindruckt und ein wenig auch beschämt. Ich spielte mich als Dichter auf und hatte doch das Mesnevi noch nicht gelesen. Das war sein Vermächtnis für mich. Wir sahen uns nicht wieder. Einige Monate später erreichte uns die Nachricht von seinem Tod. Er hatte noch einige wenige Freunde gehabt. Also hatte er sie ausreichend informiert, wer diese Nachricht unbedingt bekommen sollte. Ich fuhr hin und erwies ihm die letzte Ehre. Bei der Bestattung waren nur ein paar Seelenverwandte dabei, so wie ich. Als wir ihn in die Erde senkten, war ich überzeugt, ihn an einen sehr schönen Ort geleitet zu haben … Siehst Du, da hat sich wieder mal meine dichterische Ader durchgesetzt! … Entschuldige, daß ich so ausführlich geworden bin. Doch ich mußte Dir von ihm erzählen. Sonst wäre es mir vorgekommen, als hätte ich meine Geschichte nicht vollständig erzählt …
    Nun laß uns wieder zurückkehren zu dem Leben, das ich hier führe. Frankreich hatten wir hinter uns gelassen und in Griechenland neu angefangen. Ich schlug im Buch des Lebens noch einmal eine neue Seite auf, nachdem ich eine alte abgeschlossen hatte. Die Geschäfte liefen nicht schlecht. Ich war überzeugt, daß sie nicht schlechtgehen durften. Außerdem hatte das Leben mich gelehrt, mich nicht an einen Ort zu klammern. Wenn es hier

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