Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach
mich, einen solchen Wert maß ich ihr bei …
Wenn das so war, warum gingen dann Beziehungen meistens schief? … Ich verstehe jetzt noch besser, warum ich an dem Abend, als ich jenen Brief las, mich in solche ›tiefen philosophischen Gedanken‹ versenkte. Meine Absicht war nicht, philosophisch zu ›faseln‹. Das Erzählte erweckte etwas in mir. Vielleicht blieben wir alle eines Tages, ohne es zu wollen, allein mit den Niederlagen, die uns zu uns selbst gemacht hatten, trotz unserer kleinen Erfolge oder dem, was wir für Erfolge hielten. Allein und damit konfrontiert … Um noch besser zu sehen und zu verstehen … Freilich war vor allem wichtig, wie diese Niederlagen uns zu uns geführt hatten. Und nicht nur zu uns, sondern auch zu anderen, und was wir ausgewählt hatten, um diese Niederlagen zu tragen und uns tragen zu lassen. Denn wir gingen weiter, wir gingen trotz allem weiter. Wobei wir überzeugt waren, jeden Tag ein wenig reifer zu werden …
Hatte sich auch Şeli diese Fragen gestellt, hatte sie auf ihrem langen Weg solche Begegnungen erlebt? … Waren ihr ihre Menschen, ihre Partnerschaften, ihre inneren Reisen zum Anlaß geworden, das Leben mit anderen Augen zu betrachten? Vielleicht hatte sie mit der Vergangenheit völlig abgeschlossen. Völlig … In der Hoffnung auf ein anderes Leben und eine andere Freiheit … Vielleicht erwartete ich von ihr, was ich zu sehen wünschte. Was ich zu sehen wünschte … Dabei wußte ich, das Leben war nicht so freigebig, Leben wurden aufgebaut auf unterschiedlichen Wahrheiten oder was man dafür hielt. Um den Kern der Sache zu erkennen, mußte ich sie wirklich sehen, in jeder Hinsicht sehen. Zu diesem Schritt fehlte mir nicht viel. Çela hatte ihre Spur, ihre Telefonnummer gefunden. Ich fragte nicht, wie. Es war nicht sinnvoll, in dieser Angelegenheit allzusehr zu bohren. Das Ergebnis war wichtig, die Möglichkeit, daß sich die Erzählung weiterentwickelte. Mit anderen Worten: Die Erzählung wollte von mir, daß ich diese Spur hatte. Nicht umsonst glaubt der Mensch in großer Not an die Kraft von Zufällen, ja des Schicksals, damit er sich an die verwirrenden, unbegreiflichen Umstände und Entwicklungen des Lebens gewöhnen kann … Zufälle und das Schicksal hatten also ein weiteres Problem gelöst. Was konnte ich mehr von wem auch immer verlangen? …
Noch einmal reden können, und zwar richtig
An jenem Abend ging ich noch einmal in meiner inneren Welt spazieren. Am darauffolgenden Morgen antwortete ich Yorgos. Auch ich erzählte von mir und meinen Erlebnissen. Die Erzählung meiner Erfolge oder Mißerfolge im Leben schrieb sich, ob ich nun wollte oder nicht, langsam wie von selbst. Womöglich hatte ich in Wirklichkeit gar kein so erfolgreiches Leben. Die Bilder, die mich an das Gefühl des Zweifels erinnerten, sprachen aus den Zeilen, in denen ich zu erzählen versuchte, was ich hinter mir gelassen hatte und was nicht. Ich konnte versuchen, meine Erlebnisse besser zu verstehen. Besser, tiefer, mit anderen Augen … Nachdem ich gesehen hatte, was Necmi und Şebnem erlebt hatten, was sie hatten erleben müssen …
Ich versuchte, Yorgos in meinem Brief auch zu erzählen, was ich über sie erfahren hatte. Ich war überzeugt, es würde seine Rückkehr nach Istanbul beschleunigen, wenn er das läse. Der Yorgos, den ich kannte, konnte von diesen Erzählungen nicht unberührt bleiben … Wenig später antwortete er mir, indem er ausführlich und offen seine Sehnsucht zur Sprache brachte. Ja, er sehnte sich nach der Stadt, der ›Truppe‹, unserem Zusammensein, dem ›Spiel‹, der Schule, seinen Tagen im La Paix, sogar nach den Nächten. Ich konnte diese Sehnsucht verstehen. Auch ich scheute mich nicht, in meinen Briefen zu erzählen, wonach und wie ich mich sehnte. Als ob ich heimlich die Schwermut genösse, die beim Erinnern entstand. Unser Briefwechsel dauerte in dieser Weise etwa zwei Monate. Bei jedem Austausch kamen wir einander näher, beziehungsweise wir begriffen besser, wie nahe wir uns eigentlich standen. Wir kehrten nach außen, was wir irgendwo versteckt gehalten hatten. Mochten auch unsere Jahre verronnen sein, so war uns doch die Unschuld, die Schutzlosigkeit, geblieben, die versuchte, gegen die mit jedem Tag mehr an Ansehen gewinnende Durchtriebenheit zu überleben, war uns die Begeisterung von Kindern geblieben, die mehr auf ihre Träume vertrauten. Das war für Leute in unserem Alter eine unerläßliche Existenzfrage. Eine Existenzfrage, die
Weitere Kostenlose Bücher