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Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Titel: Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Levi
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mir ins Gesicht zu schauen. Doch ich werde ihm ins Gesicht schauen. Und ich werde für mich sagen: ›Sei gegrüßt, Landsmann, schau her, ich bin wieder hier.‹ Denn ich habe, wie soll ich sagen, einen Teil von mir dort gelassen, wohl für immer dort gelassen. Wie viele unserer hier lebenden Mitbürger … Weißt Du, daß auch Athen diese Seite hat? … Weil sie Griechen waren, wurden sie von ihrem eigenen Boden vertrieben, und in dieser Stadt begegnet man ihnen als Türken, und so leben sie weiter … Man hat hier einen Film gedreht. Ich wünschte, Du könntest ihn sehen. Beim Zuschauen hat es mir in der Seele weh getan. Besonders eine Szene gab es, die kann ich nicht vergessen. Ich habe geweint, sehr geweint. Ein Polizist kommt zu einer Familie ins Haus und teilt denen offiziell mit, daß sie gehen müßten. Genauso wie wir es erlebt haben … Also war mir diese Szene gar nicht fremd. Dann flüstert der Polizist dem Vater etwas ins Ohr. Man vermutet, daß der Polizist ein Bekannter des Mannes ist. Man hört aber nicht, was er sagt. Man meint, vielleicht möchte er ein Bestechungsgeld haben. Der Mann überlegt einige Sekunden lang. Dann sagt er traurig, daß er das Angebot nicht annehmen könne. Sie müssen fortgehen. Die Tragödie hat noch eine weitere Dimension. Der Mann ist ein Grieche aus Griechenland, die Frau gehört zu den ›Rum‹, den in der Türkei alteingesessenen Griechen. Es heißt, die Frau könne bleiben, sie müsse nicht fort. Aber soll sich die Familie vielleicht zerreißen? … Es bleibt ihr nichts übrig, als ebenfalls ihren Kram zu packen, und so wird sie eine von unseren Türkinnen hier.
    Was der Polizist dem Mann ins Ohr geflüstert hat, erfährt man in späteren Szenen. Jahre sind vergangen, alle sind älter geworden, der Held, der in den Jahren der Umsiedlung ein Kind war, ist ein erwachsener, reifer Mann, ein berühmter Astrophysiker, aber zugleich ein fähiger Koch. Er bereitet sich auf eine Reise nach Istanbul vor. Zum einen möchte er seinen Großvater auf dem Totenbett ein letztes Mal sehen, zum anderen will er seine verlorene, unvergessene Jugendliebe wiederfinden … Während der Reisevorbereitungen erinnert der Vater sich an das Geschehen vor vielen Jahren und sagt: ›Istanbul ist die schönste Stadt der Welt … An jenem Abend hat mir der Polizist zugeflüstert, ich bräuchte nicht zu gehen, wenn ich Muslim würde. Ich habe ein paar Sekunden lang überlegt. Jetzt bereue ich die paar Sekunden …‹ Bei dieser Szene mußte ich weinen, ich habe mich richtig ausgeheult. Wer weiß, weswegen ich geweint habe. Es berührte mich so sehr. Ich fragte mich, warum wir das alles eigentlich erlebt haben. Die Geschichte fließt dahin, sie dauert lange, ist manchmal grausam. Doch die Leben sind kurz, und zwar sehr kurz. Manche Leben werden verschwendet. Vor den Augen der anderen … Zumal unsere Leute, eure Leute mit der Zeit vergessen werden. Wie weit sind wir gekommen, indem wir unsere Leute, eure Leute gesagt haben? Diese Tode können überall und jederzeit passieren, solange unsichere Menschen, die ihre Existenz auf ein paar Schwächen gründen, manche Morde erklärbar machen, sie sogar als legal ansehen. Sieh dir nur in der heutigen Zeit das Blindwerden gegenüber der Geschichte an, dann verstehst du es, sage ich mir manchmal. Aber letztlich fühlt der Mensch sein eigenes Leben intensiver und hält es für noch wichtiger. Das Leid wird im eigenen Leben als eine noch bitterere Tatsache erlebt …
    Nun gut … Ich habe mich nicht zurückhalten können, habe den Stift in die Hand genommen und mir gesagt, ich will die Geschichte auch mal so kommentieren wie die wichtigen Leute im Fernsehen und in der Zeitung, denen man zuhört, wenn sie ihr vorschnelles Urteil abgeben. Zumindest ist meine Geschichte eine selbsterlebte, der Preis dafür ist bezahlt worden. Wahrscheinlich sage ich deswegen, wenn das Thema angeschnitten wird, dies und jenes, was mir gerade einfällt. Obwohl ich weiß, daß man von unseren Erlebnissen nicht spricht, daß man sich inzwischen nicht mal erinnert, daß sie absichtlich vergessen und begraben werden … Du hast mich angerufen und aufgeweckt. Schauen wir mal, woran wir uns noch alles erinnern werden.
    Doch ich möchte Dir auch sagen, ich bin nicht mehr so zornig wie früher. Im Gegenteil, wenn ich nachdenke, wird es mir immer klarer, wie sehr ich mich nach dort sehne. Und je mehr ich mich sehne, merke ich, wie sehr ich Istanbul liebe … Das ist seltsam. Vielleicht sehne

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