Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach
Telefongespräch geben. Ich konnte sie in keinem Telefongespräch geben. Doch verlangte die Bindung zwischen uns, daß ich mich irgendwie äußerte. Am besten sagte ich, daß etwas mich abhielt, das ich nicht zu bezeichnen wagte. Ich mußte mich darauf verlassen, was gewisse Worte sagten.
»Darüber reden wir, wenn wir uns persönlich begegnen, Yorgos … Vielleicht fliege ich noch vor dir nach Athen. Wir setzen uns zusammen, reden lange miteinander, schütten uns gegenseitig das Herz aus. Aber wir beide ganz allein, ja? … Nur sollst du wissen, ich habe einen sehr wichtigen Grund … Jetzt …«
Er insistierte nicht. Ich war mir sicher, er verstand, daß er warten mußte. Er hatte ja gelernt, geduldig die Hoffnung zu nähren … Seine Antwort zeigte nicht nur diese Weisheit, sondern auch, daß er nicht umsonst älter geworden war. Er war nun schon weiter, als daß er nur zu schweigen verstand.
»Gut, so sei es, wir werden reden … Wir sind ja noch nicht tot …«
Wir sind noch nicht tot … Wie bedeutsam war es doch, diese Worte zu hören. Zu hören und gehört zu werden, damit das Gesagte ganz und gar verstanden wurde … Ich schluckte. In Wirklichkeit schluckte ich schwer. Ich war gezwungen, mit meinen Gefühlen zurechtzukommen. Das hatte ich von allem Anfang an getan.
»Danke … Es war schön, wieder mal mit dir zu sprechen. Danach hatte ich mich richtig gesehnt …«
Mir war bewußt, das waren sehr banale Worte, an die wir uns klammerten, wenn wir sehr in Bedrängnis waren, die wir irgendwo in Reserve hatten. Doch mein Gefühl war ganz aufrichtig. Ich hatte mich wirklich nach ihm gesehnt. Denn auch er war in meinem ›Spiel‹, in meinem langen ›Spiel‹, einer der unverzichtbaren Mitspieler. Ja, wir lebten, wir waren noch nicht tot. Als ich den Hörer auflegte, spürte ich die Wärme dieses Gefühls derartig stark in mir … Darum wußte ich, er würde mir in Kürze einen langen Brief schreiben. Diesen Glauben gab mir unsere Geschichte, die Spuren unserer Geschichte, die von niemand ausgelöscht werden konnten. Von niemandem … Solange wir am Leben waren … Der Glaube war ein Teil des Lebens, des wirklichen Lebens. Auf die Gefühle zu vertrauen war ein Teil des Lebens. Das Leben hatte uns auch gelehrt, mit diesem Vertrauen zu leben …
Manche Briefe waren ein altes Bedauern
Konnten Menschen, die ihren Gefühlen vertrauten, die Dinge richtiger sehen als diejenigen, die an die Kraft ihres Verstandes glaubten? … Diese Frage habe ich nie befriedigend beantworten können. Ich wußte nur, mir war das Leben mit Gefühlen immer sinnvoller und näher erschienen, trotz allem, was mein Verstand mich zu tun und nicht zu tun veranlaßt hatte. Damals, als ich meine Erzählung vorwärtszubringen versuchte, half es mir, diese Seite meines Wesens zu betonen. Ich glaubte noch immer an die Möglichkeiten und die Hoffnungen, die sich hieraus ergaben … Nach einer Woche sollte ich sehen, daß ich nicht umsonst gehofft hatte. Als ich einen dicken Briefumschlag in meinem Briefkasten fand … Der Umschlag war in Athen abgestempelt. Ein langer Brief in ordentlicher, gut lesbarer Handschrift befand sich darin. Ein Brief, der mich zu einer anderen Lebensgeschichte hinrief, die weit entfernt gelebt worden war … Es war Abend. Ich war zu Hause. Jede Zeile brachte mich jenem Leben näher.
Lieber Isi,
unser Gespräch hat mich in alte Zeiten versetzt. Ich habe mich hingesetzt und lange nachgedacht. Ich habe meine Bindungen an Istanbul zerrissen. Das habe ich bewußt und willentlich getan aus Gründen, die Du einsehen wirst. Sonst hätte ich mir kein anderes Leben an einem anderen Ort aufbauen können. Verstehst Du, was ich meine? … Ich glaubte, es sei mir gelungen. Doch nach dem Gespräch mit Dir ist mir klargeworden, wie sehr ich mich geirrt hatte. Also habe ich mich jahrelang mit einer Lüge begnügt. Ich habe ständig mit einem Traumbild von Istanbul gelebt. Wer weiß, wie sich das Istanbul, das ich zurückgelassen habe, inzwischen verändert hat … Ob ich mich, wenn ich wieder dorthin käme, wohl als völlig Fremder fühlen würde? … Als völlig Fremder, na, was sagst Du dazu? … Eigentlich kann ich wohl kaum eine Entscheidung treffen. Das heißt in bezug darauf, was ich dann fühlen werde … Wenn ich komme, dann mit einem griechischen Paß. Der Beamte am Zoll wird mich deswegen wie einen Fremden behandeln. Er wird seinen Stempel hineindrücken, ohne zu wissen, wer ich eigentlich bin, und vielleicht ohne
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