Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach
ich mich in Wirklichkeit nach meiner Jugend, meiner Kindheit. Auch das ist ganz natürlich. Jeder denkende Mensch kann das sagen, was ich gesagt habe. Wenn es dem Menschen gelingt, sich von einem Ort zu entfernen, kann er die negative Seite dessen, was er erlebt hat, leichter vergessen oder zumindest ertragen. Und wir werden auch älter, ob wir das nun zugeben oder nicht. Ich erinnere mich wie gestern an Zeiten, wo mir die Vierziger weit entfernt erschienen. Doch schau an, wir sind sogar schon in den Fünfzigern … Macht nichts, egal, wir haben trotzdem ganz gut gelebt, kann man sagen … Wer weiß, was wir noch alles sehen, erleben werden. Schau, woher hätte ich zum Beispiel ahnen sollen, daß Du mich anrufen und meine Erinnerungen wieder derartig aufwühlen würdest? … Denn wenn ich mich auch manchmal an dort erinnere und meinen Kindern davon zu erzählen versuche, schien es mir doch, als hätte ich alles in weiter Ferne gelassen. Mein Versuch, davon zu erzählen, ist freilich eine ganz andere Sache. Doch jetzt ist es richtiger, dieses Thema nicht allzusehr aufzurühren. Ich glaube sowieso, Du verstehst, was Du verstehen sollst. Da denke ich, wie unsinnig es doch eigentlich ist, daß ich immer ›dort‹ sage. Wer mich hört, der glaubt, ich rede von einer Entfernung zwischen Kontinenten, einem Abstand von Tausenden von Kilometern. Dabei ist es mit dem Flugzeug nur eine gute Stunde … Doch der eigentliche Schmerz liegt vielleicht sogar hierin. Wenn diese Zerstückelung und Entfernung in einer solch kleinen Weltgegend erlebt wird … Daß Menschen auf einem so kleinen Stück Land so übereinander herfallen. Vielleicht fallen wir dermaßen übereinander her, weil wir einander so nahe sind, was sagst Du dazu?
Gut, ich habe gesagt, was ich zu sagen hatte, jetzt bin ich ein wenig erleichtert. Wenn Dich meine Geschwätzigkeit nicht langweilt und Du weiterhin darauf bestehst, diesen Brief zu lesen, wirst Du erfahren, was in den Jahren passiert ist, die wir getrennt verbracht haben. Denn ich fühle mich endlich zum Erzählen bereit. Ich weiß noch nicht, bis wohin ich kommen werde, doch ich werde erzählen, soweit ich kann. In solchen Situationen wird der Mensch unwillkürlich trübsinnig, weil er in die Vergangenheit gereist ist. Doch wir haben nun einmal begonnen. Ich werde nicht davon ablassen.
Du erinnerst Dich daran, was ich gefühlt habe, als ich Istanbul verließ? Ich hätte nicht länger dortbleiben können. Ich mußte die Verbindung zerreißen und gehen. Ich hatte einen Studienplatz in Grenoble, aber ich sagte mir trotzdem, ich würde gehen, wohin der Wind mich triebe. Ich weiß nicht, ob Du Dich erinnerst, daß ich die Absicht gehabt hatte, in Grenoble Wirtschaft zu studieren … Dort hielt ich es nur ein Jahr aus. Wirtschaft gefiel mir nicht. Auch mußte ich während des Studiums arbeiten und Geld verdienen. Ich wollte nicht nach Paris. Das Gedränge, die vielen Menschen dort bedrückten mich furchtbar. Auf den Rat einiger Freunde hin ging ich nach Marseille und schrieb mich für Kunstgeschichte ein, weil ich dachte, dies sei besser mit meiner Arbeitszeit zu vereinbaren. Ich hatte Glück. Ich fand Arbeit bei einem alten Teppichhändler aus Tunesien. Monsieur Tahar war Sufi, eine richtige Seele von Mann, der uns ein bißchen ähnlich war, wenn Du verstehst. In jungen Jahren hatte er seine Frau verloren und nicht wieder geheiratet. Er hatte beschlossen, sein Leben alleine zu verbringen. Von ihm habe ich sehr viel gelernt, sowohl den Beruf als auch das Leben betreffend … Auch einen anderen Blick aufs Leben … Es stimmt, wenn ich sage, ihm verdanke ich ebenfalls ein bißchen, daß ich mit der Zeit weicher geworden bin. So vergingen jene Jahre … Eines Tages hatte ich das Studium beendet. Wenn auch etwas spät. Damals war ich schon mit meiner jetzigen Frau verheiratet. Auch sie war eine Griechin, die dort zum Studium hingekommen war. Natürliche Anziehungskraft, Du weißt! … Damals sah ich zum ersten Mal im Leben den Vorteil meiner Einsamkeit. Ich hatte niemanden, dem ich Nachricht von meiner Verheiratung geben mußte, ich mußte niemanden um Zustimmung bitten. Ich war halt ganz allein. Monsieur Tahar, in dem ich im Laufe der Zeit einen Vater zu sehen begonnen hatte, war sowieso bereit, die Liebe in jeder Weise zu unterstützen. Ich liebte meine Frau und hatte, wie gesagt, recht und schlecht Arbeit. Doch eines Tages fing meine Frau an, davon zu reden, daß sie nicht länger in Frankreich leben wollte.
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