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Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Titel: Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Levi
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war. Er bereitete sich gerade auf eine lange Tour nach Anatolien vor. Ich sagte: »Ich habe was zu erzählen, komm!«, und er kam. Wir aßen bei unserem köfteci zu Mittag. Ich erzählte ihm von Şeli und meinen Erlebnissen in Izmir. Manchmal lachten wir, manchmal wurden wir traurig. Stellenweise nahmen wir uns das Recht, aufgrund unserer alten Freundschaft leicht ›boshafte‹ Kommentare abzugeben … Schließlich konnten Männer ebenfalls Spaß an Klatsch haben, auch wenn das Gegenteil behauptet wird. Ich war froh, einen weiteren Menschen wiedergefunden zu haben, den ich auf den Wegen der Vergangenheit verloren hatte. Trotzdem sah, fühlte ich, daß noch etwas Weiteres, das ich nicht näher bezeichnen wollte, in uns zerbrochen war. Noch wichtiger aber war, daß das Kind in uns nicht völlig vernichtet war und daß wir uns jenes Gefühl bewahrt, nachdrücklich bewahrt hatten, das uns über das Erlebte immer noch spotten ließ. Vielleicht konnten wir wegen unserer Erlebnisse das Leben verspotten …
    Dann gingen wir in den Laden. Ein bißchen sprachen wir auch über Necmis Angelegenheiten. Er hatte von seiner Arbeit die Nase voll, aber wenn er überleben wollte, blieb ihm nichts anderes übrig. Natürlich hatte er etwas Geld gespart. Die Jahre hatten ihn unter anderem gelehrt, seinen Verstand so zu gebrauchen, wie es dieses Leben erwartete und erforderte. Nur, wieviel Verstand brauchte man wohl schon, um dieses wenige Spargeld auf die Seite zu legen! Wenn er weiter feste arbeitete, konnte er sich vielleicht nach einiger Zeit in den Hintergrund der Bühne zurückziehen, um das Spiel von dort besser zu beobachten. Eigentlich aber hatte sein Schicksal ihn vor vielen Jahren in weite Ferne geschleudert. Er war am Leben geblieben, und es war ihm dank seiner Menschen gelungen, auf eigenen Füßen einen Weg zu gehen, auf seine Art. Er lebte, aber eigentlich war er nie richtig aus der Ferne zurückgekehrt. Wie hätte er zurückkehren können? … Er hatte dort so viele Tode und unverheilte Wunden zurückgelassen, deren Schorf jederzeit aufplatzen konnte … Deshalb wollte er etwas Neues anfangen, um seinem Leben mehr Sinn zu geben. Er wußte noch nicht, was das sein würde, konnte es weder beschreiben noch erklären, aber er hoffte immer noch darauf … Diesen Schritt erwartete er von sich. Er erwartete ihn um seiner inneren Ferne willen, um dieser Ferne mehr Sinn zu geben. Um seine Stimme und seine Verbannung andere hören zu lassen … Mit ein paar früheren Weggenossen hatte er im Internet Verbindung aufgenommen. Sie diskutierten, werteten, versuchten neue Fragen zu stellen, Fragen, an deren Richtigkeit und Realitätsnähe sie noch stärker glauben wollten … Um die Erstarrung zu durchbrechen … Er hatte zudem nun auch andere Erfahrungen … Dieser Schritt war positiv. Er war positiv, doch mir schien, es war nicht der für ihn entscheidende Schritt … Ich war von dem, was ich hörte, sehr ergriffen. Auch bei mir gab es ein Echo dieser Erwartung, der Hoffnung und der durch verborgene Stimmen vertieften Stille. Waren wir wohl alle hinter dieser ›letzten Sache‹ her? … Hatte ich etwa umsonst davon geträumt, dieses ›Spiel‹ für unsere Leben zu gewinnen? … Er sah, daß ich gerührt war, und um mich zu beruhigen, wedelte er lächelnd mit der Hand, als wollte er ›laß doch‹ sagen. Wir gaben uns gegenseitig zu verstehen, daß wir uns immer mehr verstehen würden … Es war dermaßen anregend, ihn aufs neue zu gewinnen, trotz allem, was ich hatte erleben müssen. Wir hatten uns unerwartet wiedergefunden. Ich wußte, daß ich diese Begegnung auskosten würde. Ich wußte auch, daß wir nicht an diesem Punkt verharren würden. Alles, was das Schicksal uns gegeben und genommen hatte, ließ uns miteinander andere Aspekte des Lebens entdecken und durch diese Entdeckung auch gewisse Seiten in uns sehen. Doch ich wußte nicht, daß das Gespräch an jenem Tag eines von den historischen Gesprächen unseres Lebens war. Die Auswirkung des Abwartens würde zu gegebener Zeit zu spüren sein. Um uns beide tief zu erschüttern … Das bedeutete, wir beide waren sozusagen in einer langen Vorbereitungsphase, ohne es zu merken …
    Nach diesem Gespräch trennten wir uns. Er sagte, er würde mindestens zwanzig Tage von Istanbul weg sein. Sobald er zurück sei, würde er anrufen. Ich sagte ihm, ich würde seine Abwesenheit ausnutzen und in aller Ruhe ganz allein Şebnem besuchen gehen. Wir würden endlich das tun, was wir tun

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