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Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Titel: Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Levi
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… Daß ich sie nach allem, was ich erlebt und wofür ich mich entschieden hatte, weiterhin als solche ansah, appellierte an wer weiß welche Tiefen. Doch wenigstens konnte ich mir diese Wahrheit nun leichter eingestehen, nach dem, was ich auf dem Weg dieser Erzählung gesehen hatte. Als ich mich an jenem Abend darauf vorbereitete, von Şebnem zu sprechen, durchfuhr mich dieses Gefühl ebenfalls, doch ich entschied mich, auf keinen Fall darüber zu sprechen. Ich eröffnete das Gespräch in dieser Hoffnung, und gestärkt durch den Eindruck, den das zu Erzählende machen würde, fragte ich Şeli, warum sie sich nicht nach Şebnem erkundigt habe. Die Antwort, die ich bekam, war völlig unerwartet. Es war eine Antwort, die plötzlich die Grundlagen erschütterte, von denen ich ausgegangen war … Sie habe gewußt, daß ich irgendwie schon davon reden würde. Auch wenn ich mich sicherlich damit quälen würde … Sie habe bemerkt, was ich damals gefühlt habe, so sagte sie nun hier, Jahre danach. Eine Antwort, die mir schlagartig deutlich machte, wir konnten an jenem Tisch alles, was wir erlebt hatten, in aller Offenheit besprechen … Ich war betroffen. Ich fühlte mich zwar ein wenig nackt, ein wenig schutzlos, doch ich war sehr betroffen. Als ich dann anfing, von Şebnem zu erzählen, ihre mir bekannte Geschichte und wie ich sie zuletzt gesehen hatte, war die Reihe an Şeli, betroffen zu werden. Sie war mehr als betroffen, sie war erschüttert, sehr traurig. Einmal konnte sie nicht an sich halten und weinte sogar … Und sie sagte ganz aufrichtig, sie weine nicht nur um Şebnem, sondern um uns, um das, was wir zurückgelassen hätten, daß wir uns alle so weit voneinander entfernt, einander auf diesem langen Weg verloren hätten, und sie weine auch über die Wunden, die wir empfangen hätten …
    An jenem Abend an jenem Tisch, als wir über jene Geschichte sprachen, sah ich auch ein, wie verkehrt die ersten negativen Urteile waren, die ich unter dem Einfluß jener fertigen Muster in meinem Kopf über Selim gefällt hatte. Ich erlebte nun einen feinfühligen Menschen, der Anteilnahme zeigte. Ja, Şeli hatte ihr Leben mit dem richtigen Mann verbunden, nach allem, was ihr passiert war. Diese Wahrheit zu sehen reichte, mich in jenem leidvollen Umfeld ein wenig glücklich zu machen. Auch er wollte Şebnem helfen. Darüber würden wir zu gegebener Zeit gemeinsam entscheiden. Besser gesagt, Şeli würde das entscheiden. Ich konnte nicht wissen, was sie erleben würde. Aber alle würden wohl irgendwie zurückkehren. Man mußte sehen, was die Zeit uns bringen würde.
    Dann erhoben wir uns und kehrten auf demselben Weg nach Alsancak zurück. Sie luden mich zu sich nach Hause ein, und ich kam mit. Es gehörte sich nicht, sie zu brüskieren. Wir wollten den Abend mit einem kleinen Drink und weiteren Gesprächen beenden. So würde ich auch sehen, wie sie wohnten. Ich wußte, das, was ich zu sehen bekam, hatte ebenfalls einen Platz in dieser Erzählung.
    Die Wohnung war ziemlich groß, doch nur spärlich eingerichtet. Solche Wohnungen machen mir immer den Eindruck der Leere, Unbelebtheit. Ich zog immer vollgestellte Wohnungen vor, mochten sie nun groß oder klein sein, da ich überzeugt war, in den Details verbargen sich die Lebenseinstellung der Bewohner und Hinweise auf ihre Geschichte … Die Wohnung sagte mir deswegen nicht zu. Das war freilich unwichtig. Schließlich waren das meine Gedanken. Vielleicht gab es unter denen, die mich zu Hause besuchten, auch welche, die sich von meinen Möbeln bedrängt fühlten. Wahrscheinlich bemerkte Şeli, daß ich ein wenig befremdet war. Was sie sagte, klang, als fühlte sie sich zu einer Erklärung gedrängt.
    »Manchmal entschließt sich der Mensch, sein Leben zu vereinfachen. Wir fühlen uns so viel wohler …«
    Ich nickte leicht und lächelte, ohne einen Kommentar abzugeben. Mein Schweigen konnte in verschiedene Richtungen zielen, vielerlei bedeuten. Ich erörterte das nicht. Das war kein Thema, über das ich sprechen wollte. Selbst wenn ich fühlte, daß Şeli in diesem Punkt von mir eine Bestätigung erwartete … Selim lockerte die Stimmung auf. Was wollten wir trinken? Ob ich Cognac wolle oder Whisky? … Natürlich konnte ich auch etwas anderes haben … Ich schwankte nicht lange. Für mich war nach dem Essen immer noch Cognac konkurrenzlos. Auch die angebotene Zigarre wies ich nicht zurück. So weit, so gut. Ich brauche mich an diesen Teil der Nacht nicht ausführlicher zu

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