Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach
sagten ihr, daß Yorgos die Einladung annehmen würde. Natürlich waren für mich trotz all ihrer Glaubwürdigkeit diese Zuversicht und der Ausdruck ihres Gefühls nicht ausreichend. Wenn ich in so eine Stimmung geriet, hörte ich auf niemanden mehr. Wir beide kannten diese meine Seite gut. Doch mußte ich nicht mehr lange mit diesem Zustand kämpfen. Als wir gerade mit dem Essen fertig waren, klingelte das Telefon. Ich nahm aufgeregt ab. Er war es! Er entschuldigte sich in aller Form, daß er tagsüber nicht hatte sprechen können. Ich versuchte, diesen Teil abzukürzen, und erzählte ihm von den jüngsten Entwicklungen, soweit das im Rahmen eines Telefongesprächs möglich war. Daß ich die Bühne in der Schule irgendwie organisiert hätte, daß Niso gekommen sei, von der Einladung und daß Necmi und Şeli auf jeden Fall kommen würden, daß sogar Şebnem vielleicht kommen könne, aber vor allem, daß er erwartet werde … Er hörte schweigend zu. Eigentlich verunsicherten mich solche Zuhörer sehr, die scheinbar keine Reaktionen zeigten. Doch in diesem Augenblick ließ sich sogar diese Verunsicherung kaum spüren. So sehr traten das Erzählen und ihn Überzeugenwollen in den Vordergrund, die Begeisterung, ihn von dem ›Spiel‹ zu überzeugen … Dann schwieg ich. Jetzt erwartete ich, daß er etwas sagte. Als er merkte, daß ich fertig war, antwortete er mit etwas zögerlicher Stimme, er habe nicht erwartet, daß sich die Sache derart schnell verwirklichen würde … Wie viele Bedeutungen konnte man doch in das Wörtchen ›Sache‹ hineinlegen. Entsprangen diese Interpretationen alle einer Angst? … Ich schwieg weiter. Nun war ich an der Reihe, zu schweigen und zuzuhören. Dann sagte er nach kurzer Stille, das sei ja wohl ein Zufall, daß er um jenen Termin herum sowieso geplant hätte, nach Izmir zu fliegen. Sein Weg … Sein Weg könne dieses Mal auch über Istanbul führen. Er wisse nicht, was er nach all den Jahren fühlen würde, aber er würde kommen, alles daransetzen, um zu kommen. Es ginge wohl nicht anders. Er sehe diese Reise als schicksalhaft an. Dieses ›Spiel‹ würde dabei helfen, ihn von seinen Ausflüchten zu befreien. Ich freute mich sehr. Ich freute mich so sehr, daß ich sagte, ich werde ihn nicht nur vom Flughafen abholen, sondern sei sogar bereit, ihn während seiner Zeit in Istanbul bei mir zu Hause zu bewirten. Er bedankte sich und sagte, das sei nicht nötig. Vielmehr wolle er ein paar Tage früher kommen und alleine herumspazieren. Ihm sei schließlich die Sprache der Stadt nicht fremd, also könne er irgendwie seinen Weg finden … Was sollte ich machen? … Vielleicht hätte ich seine Worte anders deuten können. Ich wußte, die Sprache einer Stadt war nicht nur die Sprache, die zur Verständigung zwischen den Menschen benutzt wurde. Zudem gab es in einer richtigen Stadt nicht nur eine Sprache … Vielleicht suchte auch Yorgos in seinem Inneren Orte, bemühte sich, eine andere Sprache zu finden, zu entziffern. Meine Deutung war möglicherweise für manche allzu poetisch, doch zu dem Yorgos, den ich kannte, paßte sie tatsächlich gut. Wahrscheinlich würde er auf dieser seiner neuen Reise auch die Straßen und Häuser aufsuchen, die er einst hatte zurücklassen müssen. Um noch einmal besser zu verstehen, was er verloren hatte … Um seine nicht verwischten Spuren besser zu fühlen … Um jene Tode nach Jahren auch mit anderen Händen berühren zu können … Er würde das, was er sah und gesehen hatte, an einem Platz in seinem Leben einordnen. Ich konnte und durfte mich nicht vor seine Begegnungen stellen und das, was sie in ihm auslösten. Deswegen sagte ich nicht viel und begnügte mich mit dem Hinweis, er werde Istanbul sehr verändert finden. Er sagte, er habe sich auf die Realität schon längst vorbereitet … Da der Termin sowieso feststand, würde er seine Arbeit dementsprechend einrichten und mich dann zur gegebenen Zeit anrufen. Ich fragte nicht weiter nach. Er fragte ebenfalls nichts und hielt es nicht für nötig, seine Gefühle auszudrücken. Er wußte, was ihm begegnen würde. Er würde sich dementsprechend vorbereiten … Nach dem Ende des Gesprächs fragte ich mich wieder, was und wen er wie sah. Meine Frage ähnelte der Frage, die ich mir in bezug auf Şeli gestellt hatte. Auch er hatte auf mich den Eindruck gemacht, als ob er den Schmerz sehr weit hinter sich gelassen oder sehr tief vergraben hätte. Doch solange er mir seine innere Welt nicht öffnete, konnte
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