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Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Titel: Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Levi
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ich nicht wissen, was er erlebt hatte. Was ich spürte, war, daß er längere Zeit eine Trauer getragen hatte. Das war aber nur ein Gefühl, das auch irrig sein mochte. Die Erzählung versteckte die genaue Antwort wieder einmal irgendwo …
    Nun konnte ich Niso leichter anrufen. Ich tat das umgehend. Wir redeten ein wenig, ich erzählte ihm von der Einladung. Er sagte nur, er könne kommen. Es wirkte so, als sei er nicht begeistert. Dabei hatte ich von ihm eine ganz andere Reaktion erwartet. Ich war erstaunt. Seine Stimme klang bedrückt wie die Stimme von jemandem, der nicht viel reden will. Ich fragte nach dem Grund. Er sagte, er habe mit seiner Mutter eine schlimme Nacht verbracht. Nach den Einzelheiten fragte ich nicht. Wenn er gewollt hätte, hätte er darüber gesprochen. Er erzählte aber nichts. Ich sagte, ich würde ihm gerne zuhören, wenn er das wolle. Er schwieg ein wenig, dann sagte er, das wisse er ja. Wir beendeten das Gespräch an dieser Stelle, um das Schweigen zwischen uns nicht noch zu verlängern. Er werde mich anrufen. Das hörte ich heraus, auch wenn er die Worte nicht aussprach. Das reichte mir. Manchmal war es schön, warten zu können …
    Ich hatte mit allen geredet, außer mit Şebnem. Angesichts dieser Tatsache versuchte ich, mich wieder an die Gewißheit zu halten, daß die Zeit uns den richtigen Weg zeigen würde. Sie war dort … Dort, in der Finsternis, in die sie sich zurückgezogen, eingeschlossen hatte … In ihrem Schweigen, das sie gewählt hatte und in das sie fortan niemanden mehr eintreten lassen wollte … Mußte sie für immer dort bleiben? … Diese Frage ging mir nicht aus dem Kopf. Ich konnte mich von dem Gedanken, ja, dieser fixen Idee, nicht lösen, sie zurückzugewinnen, sie in unsere Welt zurückzubringen, deren Grenzen, Mauern wir erbaut hatten – was immer dieser Erfolg bedeuten mochte. Ich konnte sie nicht in dieser Einsamkeit lassen. Außerdem waren wir an einen Punkt gelangt, wo ich mich ihr hatte verständlich machen können. Daran mußte ich glauben. Ich mußte an diese Brücke glauben … Ich durfte nicht auf einen anderen Weg abbiegen … Nun durfte ich nicht mehr abbiegen … Diese Geschichte war nun auch meine Geschichte … Am folgenden Tag fuhr ich hoffnungsvoll zum Krankenhaus. Den Ohrring hatte ich wieder in meine Jackentasche gesteckt … Noch einmal folgte ich den Verunsicherungen, den unbeantworteten Fragen, aber zugleich auch jener Hoffnung, die ich nicht aufgeben wollte. Wobei ich das Gefühl nicht loswerden konnte, auf dem Weg zu einer verbotenen Geliebten zu sein … Der Unterschied war nur, daß ich mich weniger schuldig fühlte … Ich kannte den Weg nun ziemlich gut, und am wichtigsten war, daß ich wußte, während ich in Richtung auf die mir nun nicht mehr fremde Station zuging, ich konnte meine innere Überzeugung jedem mitteilen. Dieses Gefühl ließ mich einerseits die Hoffnung aufrechterhalten, andererseits erleichterte es mir, meinen Weg weiterzugehen. Außerdem hatte mich das Leben noch eine andere Grundwahrheit gelehrt. Wenn man daran glaubt, was man tut, wofür man kämpft, wirklich glaubt, dann überträgt sich dieser Glaube auch auf die anderen Spieler auf der Bühne und macht einen selbst damit ebenfalls glaubwürdiger … In dem Spiel, Şebnem zu gewinnen, zu erwecken, brauchten wir alle, brauchten alle Mitspieler diesen Glauben. Mit anderen Worten, der Schritt, den ich an jenem Tag auf die Station zu tat, war zugleich auch der Schritt auf diese Überzeugung hin. Ich hatte Glück. Zafer Bey war bei der Oberschwester im Zimmer. Das bedeutete, wir konnten ein wenig mehr reden. Vielleicht konnte ich die Einladung erwähnen … Wieder kam der Tee, wieder wurden alltägliche Banalitäten gestreift in Sätzen, die irgendwo schon längst vorbereitet in Reserve lagen. Und endlich kam die Rede auf das eigentliche Thema, auf Şebnem. Die Zukunft war nun für alle Möglichkeiten offen. Die Nachrichten waren ermutigend. Nach dem letzten Bild hatte sie aufgehört zu malen, doch das war nicht besorgniserregend. Sie war in guter Stimmung. Wahrhaftig sah sie in den letzten Tagen vergnügter aus. Sie ging alleine spazieren und kehrte lächelnd zurück. Daraufhin fragte ich, wie sie das Bild beendet habe, vielmehr, ob sie es überhaupt beendet habe. Ob jemand auf den Weg gekommen war, wo sich das kleine Mädchen verirrt hatte? … Das wußten sie nicht. Wir konnten gemeinsam hingehen und schauen. Was sie wußten, war, daß sie das Bild voller

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