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Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Titel: Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Levi
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Unsicherheit auf meine Weise verbergen zu können … Ich sagte, sie sähe sehr gut aus. Mir war bewußt, das war der banalste Satz, den ich finden konnte. Doch dieser Moment war nur mit diesen Worten erträglich. Auch war es überhaupt nicht wichtig, was die Worte besagten. Entscheidend war, nicht zu schweigen. Sie hatte weiterhin dieses tiefe, stete Lächeln. Dann löste sie ihre Hand von der Weste und führte sie langsam zu meinem Kopf. Auch sie begann, mir über die Haare zu streicheln. Ich wußte nicht, was ich tun sollte. Dieses Mal fiel mir nichts zu sagen ein. Ich lächelte bloß weiter. Sie faßte meine Hand. Ich tat dasselbe. Dann führte sie meine Hand zu ihren Haaren. Sie wollte, daß ich sie weiter streichelte. Natürlich tat ich, was sie wollte. Ich tat es für diesen neuen wortlosen, aber für mich sehr tiefen Dialog. Ich schaute wieder zu Zafer Bey hin. Er beobachtete uns weiter lächelnd mit größter Aufmerksamkeit. Plötzlich fühlte ich mich wie ein Schauspieler in einem Stück für nur einen Zuschauer. Ich wollte die Rolle, die mir unerwartet zugefallen war, bis zum Ende spielen. Ich hätte mit ihr dort stundenlang so verweilen können. Sie roch sehr schlecht, aber das war ihr wohl nicht bewußt. Dieser Geruch, den ich zu anderer Zeit abstoßend gefunden hätte, kam mir in diesem Moment sogar anziehend vor. Denn dieser Geruch war der Geruch jener Zeit, in der sie ihr Verlorensein erlebte. So verharrten wir einige Minuten lang still, wobei ich weiterhin ihre Haare streichelte. Ich dachte daran, über das Bild zu sprechen, als sie plötzlich die Stille unterbrach. Ich hörte wieder ihre zitternde, gebrochene Stimme. Ihre Worte waren wieder wie ein Appell. Wie ein Appell, von dem man nicht wußte, woher er kam …
    »Ich habe mich so nach ihr gesehnt …«
    Wir hatten einen weiteren Schritt getan. Ich fragte natürlich, was zu fragen war:
    »Nach wem hast du dich gesehnt, liebe Şebnem? …«
    Ihre Stimme kam daraufhin ein wenig entschlossener, aber zugleich noch weinerlicher.
    »Ich habe mich so nach ihr gesehnt …«
    Ich konnte darauf nicht reagieren. Dieses Mal griff Zafer Bey ein, er wiederholte die Frage in einem Ton, der die freundliche Autorität des Arztes spüren ließ. Nachdem sie noch ein wenig geschwiegen hatte, antwortete sie.
    »Nach Neveser Hanım …«
    Mir schoß das Blut in den Kopf. Zafer Bey konnte unmöglich verstehen, nach wem sie sich sehnte. Doch ich verstand, und zwar sehr gut. Neveser Hanım war der Name der Hauptfigur, die sie in dem ›Stück‹ verkörpert hatte, das ich erneut zum Leben erwecken wollte … Das hatte ich nun wirklich nicht erwartet. Doch ich mußte durch die Tür, die sich unerwartet geöffnet hatte, trotz jener Finsternis eintreten und an dem Ort, wo ich eingetreten war, sagen, was es zu sagen gab, mehr noch, sie zum Sprechen bringen, soweit das möglich war. Außerdem mußte ich Zafer Bey zeigen, daß ich Neveser Hanım kannte … Also hatte sich das, was ich bei meinen vorigen Besuchen erzählt hatte, in ihr weiterentwickelt, hatte nachgewirkt. Noch konnte ich nicht wissen, woran sie sich wie erinnerte, wo sie mich sah. Deswegen versuchte ich, der Grenze ein wenig näher zu kommen.
    »Wenn du willst, können wir sie besuchen …«
    Als wollte sie zeigen, daß sie einen solchen Besuch nicht ertragen würde, schüttelte sie aufgeregt den Kopf. Zweifellos bedeutete dieser Widerspruch, daß die Verbindung immer besser verankert war. Doch die Tür konnte sich, so plötzlich, wie sie sich geöffnet hatte, auch wieder schließen … Die einzige Möglichkeit des Vorwärtskommens war wohl, Fragen zu stellen, mit Fragen zu ihr vorzudringen und sie zu mir zu ziehen. Ich verlor keine Zeit.
    »Hast du dich auch nach dem Holzhändler Bohor gesehnt? …«
    Dieses Mal nickte sie heftig, als wolle sie eine positive Antwort geben. Es schien, als läge in dieser Aufregung außer Freude auch tiefes Leid. Und eine Kindlichkeit, die sie trotz ihrer Erlebnisse noch immer sehr gut vermitteln konnte, die sie sich bemüht hatte, nicht zu verlieren … Der Holzhändler Bohor war ich gewesen in jenem ›Stück‹ … Beide waren sie ganz alte Leute. Sie wohnten in derselben Straße, im selben Viertel. Der Sohn von Bohor war weit weg gegangen, nach Amerika, seine Frau Estela war krank, bettlägerig. Neveser hatte ihren Mann schon seit langem verloren, auch ihre Tochter war fort, sie war nach Paris gegangen und hatte ihre Spuren verwischt. Sie empfanden füreinander eine tiefe

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