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Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Titel: Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Levi
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tiefe, unstillbare Kränkung zu überwinden? … Der geschäftliche Erfolg war für ihn der wichtigste Erfolg im Leben. Meiner Ansicht nach wollte ich, indem ich diesen geschäftlichen Erfolg binnen kurzem erreichte, diesen zu etwas Gewöhnlichem, ja Banalem, machen. So wollte ich ihm zeigen, wie unwichtig sein Leben war. Solch einen Erfolg konnte jeder, der wollte, irgendwie erreichen. Sogar einer wie ich, den er wegen seiner Unangepaßtheit und seines in seinen Augen sinnlosen Bestrebens als ausgesprochenen Nichtsnutz ansah. Ich hatte mir das so ausgerechnet: Eines Tages, wenn er mir sagen würde, wie stolz er auf mich sei, würde ich ihm die Wahrheit mit einem Lächeln verkünden, dieses Mal nicht vom Zorn überwältigt, sondern den Zorn beherrschend. Aber ich habe mit der Zeit auch diesen Traum aufgegeben. Hatte ich angefangen, mich vom Erfolg berauschen zu lassen? … Ich weiß es nicht. Das einzige, was ich erkannt habe und einsehe, ist, daß ich eine bestimmte Kränkung nie überwinden werde, beziehungsweise es nicht wollte. Wahrscheinlich kommt gerade daher die Auflehnung. Auch die Wut und die Mauer … Sogar … Sogar der Bruch …
    Jener Tag war aus meinem Gedächtnis nie gelöscht worden. Es geniert mich nicht mehr, daß das, was ich erlebt habe, anderen sehr banal erscheinen mag. Ich habe nämlich in späteren Jahren diese Leere zwischen uns, daß wir einfach nicht miteinander sprechen konnten, unsere Entfremdung, die mich manchmal sehr schmerzte, stets mit dieser einfachen Kindheitserinnerung in Verbindung gebracht … Mit dieser einfachen Kindheitserinnerung … Um die anderen Entfremdungen und Kränkungen nicht zu sehen … War der Punkt, an den mich diese Begegnung ständig führte, von der ich mich einfach nicht frei machen konnte und wollte, etwa der Punkt, wo ein Spiegel zerbrochen war? Vielleicht … Doch was nützte es, selbst wenn man eine einigermaßen richtige Antwort auf diese Frage geben könnte? Der Deckel darüber war irgendwie geschlossen. Um ihn zu öffnen, hätten wir uns beide bemühen müssen. Dabei war weder ich geneigt, zu sprechen, zu erzählen, noch war ihm bewußt, was ich erlebt hatte …
    Ich war damals acht oder neun Jahre alt. Mein Vater hatte gerade den Kleintransporter gekauft, mit dem die Geschichte seiner Fahrten in die anatolischen Städte und Städtchen beginnen sollte, wodurch er zum einen seine Geschäfte langsam ausweitete, zum anderen mit Kemalettin Bey jene Freundschaft erlebte. Meine Großmutter sagte, der Wagen würde unserem Haus › azlaha ‹, Segen, bringen, unsere schweren Tage würden durch ihn enden, und er würde uns ermöglichen, einen großen Laden und eine Wohnung zu kaufen; sie kümmerte sich nicht um das Lächeln meines Vaters, unterdrückte ihren Ärger, nicht ernst genommen zu werden, versuchte diesen zu befrieden mit jener großen Welterfahrenheit, die sie sich selbst eindringlich empfahl, und wiederholte ständig, daß sie Tag und Nacht Gebete sprach. Mein Vater hingegen bemühte sich, noch besonnener zu sein, er sah sich selbst von jenen Träumen weit entfernt, und doch unterließ er es nicht, seine Mutter zu ermahnen, sie solle ihre Gebete nicht vernachlässigen. Diese Gebete waren erforderlich, um ihm Hoffnung und Mut zu geben, ihn am Leben zu erhalten, schließlich war es für einen guten Juden sehr wichtig, sein Vertrauen nicht zu verlieren. War auf diese Weise nicht vor Jahrhunderten, ja vor Jahrtausenden, ein Bund mit Gott geschlossen worden? Waren sie in dieser langen Zeit diesem Bund nicht, wo immer sie auch gelebt hatten, treu geblieben? Hatte diese Treue sie doch auf diesen langen, schweren Wegen der Verbannung davor beschützt, völlig aufgerieben zu werden, zu verschwinden …
    Meine Mutter war traurig, weil sie lange von meinem Vater getrennt sein würde, und mit weinerlicher Stimme drückte sie von Zeit zu Zeit ihren Kummer aus, indem sie ihn mit dem ›Schicksal‹ zu verknüpfen versuchte, das seinen Sinn in den Tiefen jenes in vielen verschiedenen Böden verwurzelten und von verschiedenen Sprachen berührten Erbes hatte. So ein Leben war vielleicht nicht das, was sie sich gewünscht, von dem sie als junges Mädchen geträumt hatte. Doch als traditionell erzogene Frau wußte sie sehr wohl, daß man schwere Zeiten gemeinsam durchstehen und die Ereignisse mit Geduld ertragen mußte. Auch das Bedürfnis, diese Gemeinsamkeit zu spüren und spüren zu lassen, kam aus dem, was jener Überlebenskampf gelehrt hatte …
    Und nun zu mir

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