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Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Titel: Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Levi
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… Damals, als alle diese Werte still und langsam in mein Leben eingeschrieben wurden, freute ich mich kindlich begeistert vor allem, daß wir endlich ein Auto hatten. Das Auto war zwar kein geflügelter Chevrolet Impala, doch es war unser Fahrzeug. Mit diesem Wagen würden wir an manchen Wochenenden sogar nach Sultansuyu zum Picknick fahren oder zum Teetrinken nach Emirgan. Für diese kleinen Ausflüge würden wir nicht mehr auf die Autos von anderen angewiesen sein. Mit dieser Begeisterung bestieg ich zum ersten Mal den Kleintransporter. Voll Freude nahm ich neben meinem Vater Platz, der sich mit großem Ernst hinters Steuer setzte. Ich war ganz außer mir vor Begeisterung. So sehr fühlte ich, daß das Fahrzeug meins, unseres war … Erfüllt von dieser Freude, drückte ich meinen Rücken fest ins Polster und streckte meine Füße zur vorderen Ablage aus. Mein Vater sah mißbilligend auf diese Bewegung und sagte rasch mit harter Stimme: »Was ist denn los, ist dies etwa der Besitz eines Ungläubigen? Tu die Füße runter.« Ich wußte zwar nicht, was ein Ungläubiger war, doch zumindest spürte ich, daß es etwas Böses bedeutete. Ich war ganz verdattert. Sofort nahm ich meine Füße runter und saß da wie vom Donner gerührt. Ich konnte ihn nicht anschauen. Ich schwieg, schwieg nur. Kein einziges Wort kam aus meinem Mund. Mir war zum Weinen zumute, doch ich wagte nicht zu sagen, ich hätte es nicht böse gemeint. Mir war, als wäre mir großes Unrecht widerfahren. Ich war sehr bekümmert. Was meinen Kummer noch verschlimmerte, war, daß dieser Mensch, dem ich so nahe sein wollte, nicht sah, was ich fühlte, und ich ihm meine Freude nicht hatte mitteilen können. Ich schwieg, ich schwieg bloß, ja, ich schwieg einfach. Ich versuchte meine Erbitterung zu unterdrücken. An jenem Tag zerbrach etwas in mir, was ich nicht benennen konnte und auch in den folgenden Jahren nicht benennen wollte … Jener Tag war es, an dem meine irgendwie nicht zu heilende Verletzung entstand … Der Bruch zwischen uns, der dazu führte, daß ich keine persönlichen Dinge mehr mit ihm besprach, war ebenfalls von jenem Tag geprägt …
    Im Laufe der Jahre habe ich mich viele Male gefragt, ob ich diese Kränkung nicht viel zu wichtig genommen hatte. Vielleicht hatte es diese Entfremdung schon immer gegeben, sie gehörte grundsätzlich zu unserem Leben, wir waren womöglich von Anfang an zu dieser Entfremdung verurteilt. Zweifellos hätten wir die Leere, die durch die Entfremdung entstand, auch in unser beider Persönlichkeiten suchen können, daß wir einander, obwohl wir es manchmal sehr stark wollten, unsere Schwächen nicht offen zeigen konnten, und wir trotz allem, was unsere Erfahrung uns gelehrt hatte, die Fähigkeit des Sich-Öffnens irgendwie nicht hatten entfalten können. Das war eine andere Form, das Leben zu verfehlen. Das Ergebnis war ein Nichtmiteinandersprechen. Als wäre unser gemeinsames Schicksal das Nichtmiteinandersprechen gewesen. Deswegen erlebten wir infolge der Entfremdung, die immer zwischen uns bestehenblieb und immer spürbar war, in späteren Jahren auch andere Einsamkeiten, die wir gemeinsam großgezogen hatten. Dennoch erinnerte ich mich immer wieder an jenen Tag und jene Kränkung. Warum? … Warum wurde dieses Ereignis von mir so erlebt? … Darauf gab es keine Antwort. Ich bemühe mich auch gar nicht mehr, eine Antwort darauf zu finden. Fest steht, ich konnte mich nie des Gefühls erwehren, mein Vater erwartete mein Leben lang von mir, ich sollte ein anderer Mensch sein, doch trotz Bemühens und guten Willens ist mir das nicht gelungen. Ich habe mich sehr dagegen gewehrt, widerstanden, soweit ich konnte. Jetzt ist mein Vater tot.
    Ich ließ auf dem Friedhof im Stadtteil Ulus sogar einen Grabstein für ihn anfertigen, würdig eines Kaufmanns, dem es in seiner Erdenzeit gelungen war, viel Geld zu verdienen. Dank meiner ›Großzügigkeit‹ konnte ich mich hinter der Maske des trauernden Sohnes heimlich amüsieren über diejenigen, die mir das Erbe, einen gut laufenden Laden und einen ziemlichen Geldbetrag, unausgesprochen neideten. Es war für mich von unschätzbarem Wert, mich über diese Menschen, die mir auf die Nerven gingen und die sich für berechtigt hielten, ganz selbstbewußt einzufordern, was sie von einem anderen erwarteten, hinter einem Lächeln köstlich zu amüsieren. Mit anderen Worten, ich hatte zum Lohn für meine ›Großzügigkeit‹ in den Augen dieser Menschen, die ihre Gewöhnlichkeit

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