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Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Titel: Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Levi
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Liebe, in die sich die nicht ausgelebte, aber nicht erloschene Leidenschaft ihrer Jugend verwandelt hatte. Beide sehnten sie sich so sehr danach, in ihrer letzten Lebenszeit beieinander Zuflucht zu finden … Ich mußte weitersprechen. Ich mußte im Hinhören auf die Stimme meiner Gefühle blindlings vorangehen, so weit ich kam.
    »Was sind wir doch alt geworden, Neveser, uralt sind wir geworden! Unser Leben ist zu Ende …«
    Das war eine von meinen Repliken aus dem ›Stück‹. Ich befand mich in einer meiner anrührendsten Szenen, die ich zusammen mit ihr hatte. Und sie? … Würde sie in diese Szene zurückkehren können? … Ich hatte meinen Text gesprochen und wartete auf ihre Entgegnung. Plötzlich gab sie mit ihrer zitternden Stimme die Antwort.
    »Ich bin nicht alt geworden! … Es geht mir gut, hast du verstanden? … Sprich du nur für dich selbst! …«
    Das war die Antwort, ja, das war die Replik, die ich erwartet hatte. Ich wurde sehr aufgeregt. Ich hatte mich nun ziemlich in die Atmosphäre der Szene hineinversenkt. Der Akzent meiner Rede, meiner Stimme, war der aus der Szene, der Akzent einer anderen Zeit. Ich mußte mich schwer beherrschen, um nicht zu weinen. Dennoch gab ich die nötige Antwort. Das ›Spiel‹ mußte weitergehen, die Vorführung mußte weitergehen.
    »Ach, laß mal! … Noch gestern hast du geklagt, mein Ischias ist schlimmer geworden, ich kann nicht aufstehen, ich kann mich nicht hinsetzen …«
    Ihr Kopf war immer noch an meiner Schulter. Sie entgegnete lebhaft:
    »Gib einfach nichts drauf! … Los, los, trink deinen Kaffee und geh schon … Du hast doch was zu tun. Laß Estela nicht lange warten! …«
    Ja, wir konnten weitermachen, wir konnten weitermachen … Ich rückte von ihr ab, sah sie frontal an, faßte sie bei den Schultern und schüttelte sie leicht. Genau wie in jener Szene … Ich sprach auch weiter …
    »Nicht doch, Neveser … Was soll das jetzt mit Estela, das verdirbt uns doch die Laune … Wir wollten hier doch ein wenig miteinander plaudern … Wir wollten unsere Liebe genießen …«
    Sie lächelte, lächelte bitter. Ich konnte nicht unterscheiden, ob dieses Lächeln zu jener Szene gehörte oder zu dem Augenblick, den wir erlebten. Doch die Worte waren die aus der Szene, das wußte ich.
    »Sind wir nicht ein bißchen spät dran, Bohor? … Was kann man denn in diesem Alter wohl noch machen …«
    War es möglich, diese Worte auf die Realität unseres Lebens, auf unsere Gegenwart zu übertragen? … Ich wollte nicht tiefer über diese Möglichkeit nachdenken, um nicht den Zauber dessen zu zerstören, was wir erlebten. Sie hatte sich diese Frage wahrscheinlich gar nicht gestellt. Doch es war erschütternd, daß sie sich an soviel erinnerte, zumal sie aus so einer Stille, einer Finsternis auftauchte, vielmehr, daß sie sich erinnerte, um aufzutauchen … Woran sie sich wohl noch erinnerte? … Ich ließ die Szene sein. Wieder ausgehend von dem Stück, versuchte ich, ihr unsere anderen Freunde vor Augen zu führen. Sie mußte dahin kommen, wo wir lebten, auf welchem Weg auch immer, sie mußte unbedingt kommen …
    »Wenn du willst, besuchen wir Nesrin. Sie hat in einem anderen Nachtlokal eine Arbeit gefunden. Sie arbeitet viel, aber sie scheint zufrieden zu sein. Bei Nikos kaufen wir Vorspeisen, ein wenig eingelegten Thunfisch, ein wenig Rogen, ein bißchen Gänseleber, ein bißchen Mortadella und ein bißchen Pfefferkäse, und dann beschwipsen wir uns schön. Auf dem Weg bleiben wir bei Necati hängen. Ihm gibst du wieder Geld, damit er sich Fusel kaufen kann. Und Hüseyin kannst du wieder zur Schnecke machen … Du wirst schon sehen … Du wirst sehen, sogar Neslihan kann kommen …«
    Sie nickte, weiterhin lächelnd. Die Nesrin hatte Şeli gespielt, den Delikatessenhändler Nikos Yorgos, den Trunkenbold des Viertels, den leicht verrückten früheren Steueramtsdirektorgehilfen Necati, hatte Niso übernommen und den Hausmeister im Mietshaus von Neveser Hanım, Hüseyin aus Sivas, der von allen Beziehungen wußte und alle Fäden heimlich in der Hand hielt, Necmi. Neslihan war Nevesers Tochter, die immer erwartet wurde, aber nie kam und während des gesamten Stücks nicht zu sehen war. Durch meine Worte versuchte auch ich, mich langsam an das Stück zu erinnern und manche Szenen im Geist erneut auferstehen zu lassen. Zafer Bey verstand vielleicht noch immer nicht ganz, wovon wir redeten, doch er sah sicher, daß wir an einen sehr wichtigen Punkt gekommen waren.

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