Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach
weniger gehorsam war. Wir gingen zweimal die Woche ganz begeistert zu den Übungen. Ja, unsere Träume waren groß. Doch als ich mir bei der Prüfung zum gelben Gürtel einen Zeh brach, war das Spiel plötzlich vorbei. Ich konnte meinen Vater nicht länger davon überzeugen, daß ich weitermachen durfte. Ich war sowieso nicht sehr erfolgreich gewesen. Necmi und Niso machten noch eine Saison lang weiter. Ich beneidete sie sehr darum. Aber nun gut, nach einer Weile endeten die Kurse, und ich war ein wenig erleichtert, als auch sie mit der Sache aufhörten. Yorgos hatte sowieso nie angefangen. Er hatte damals ganz andere Bedingungen gehabt … Der Ort, der uns mit einigen Bildern an die Vergangenheit erinnerte, rief uns nun aber in eine andere Zeit …
Wir begannen zu arbeiten. Çela zeigte uns einige Zeichnungen, die der Innenarchitekt, den sie angeheuert hatte, für das Bühnenbild entworfen hatte. Diese schauten wir zuerst an. Yorgos wies sich sogleich durch seine Kommentare aus. Man sah, daß er Jahre am Theater verbracht hatte. Sein Benehmen, seine Haltung waren die eines Profis. Ich vermute, alle erkannten diesen Sachverhalt. Das führte dazu, daß wir ihm gern die Regie überließen. Auch wenn wir wußten, wir würden nicht mit Worten sparen, wenn es soweit war … Unser zukünftiger Regisseur fragte denn auch gleich in selbstbewußter Pose, ob der Bühnenbildner am nächsten Tag kommen könne. Çela telefonierte unverzüglich und bekam eine zustimmende Antwort. Er schaute sich auch die Kostüme an, das machte uns Spaß. In diesem Punkt gab es kein Problem. Dann meinte Yorgos, wir müßten zuerst einmal eine Leseprobe abhalten. Gesagt, getan. Niso und Şeli hatten die meisten ihrer Repliken sogar auswendig gelernt. So verging der Morgen sehr produktiv. Als wir Hunger bekamen, schlug ich vor, zum Mittagessen irgendwohin zu gehen. Aber weil Yorgos sagte, wir dürften nicht zuviel Zeit verlieren, ging ich zusammen mit Necmi zum nahen kebapçı , um ein paar dürüm 23 zu kaufen.
Am Nachmittag arbeiteten wir auf der Bühne. Alle achteten besonders auf Şebnem. Es schien, als seien ihr die Änderungen in ihrem Text bewußt und machten sie ein wenig traurig, aber weil sie wohl oder übel akzeptiert hatte, was ihr geschehen war, wollte sie weder sich selbst noch uns Probleme bereiten. Zweifellos war sie weit entfernt von ihren alten Zeiten. Doch wenn man sich erinnerte, von woher sie kam, konnte uns schon das große Hoffnung und Freude bereiten. Waren wir nicht überdies alle weit entfernt von unseren alten Zeiten? … Und dann sah und fühlte ich, wie Şebnem bei dieser Arbeit uns noch näher kam, trotz des Abgrunds, der sich im Laufe der Jahre gebildet hatte, besser gesagt, trotz der Spuren der Finsternis, die sie gewissermaßen gefangengehalten hatten. Es geschah ein kleines Wunder. Als ich zwischendurch in einem Teil des Stücks auf der Bühne nichts zu tun hatte, setzte ich mich in einen Zuschauersessel neben Zafer Bey. Şebnem war gehörig ins Spiel vertieft. In ihrer Stimme lagen außer jener Gebrochenheit auch Begeisterung und Leidenschaft … Ich hatte das Bedürfnis, mich zu Zafer Bey, der den Ablauf verfolgte, hinüberzubeugen und ihm das, was ich in diesen Augenblicken sah und empfand, ins Ohr zu flüstern …
»Merken Sie das? … Sie ist durch ihre Rolle im Stück ins Leben zurückgekehrt. Und sie kehrt immer noch zurück. Das könnte als Fallbeispiel in die Lehrbücher aufgenommen werden …«
Er nickte und lächelte. Mir war nicht recht klar, wie ich sein Lächeln verstehen sollte: Drückte es Zufriedenheit, Freude und Zustimmung zu meinen Worten aus, oder fand er sie etwas naiv, sogar ›laienhaft‹? Manche Psychiater haben ein Lächeln, das mir gar nicht gefällt. Wenn man ihnen etwas erzählt, lächeln sie leicht nickend. Man weiß nie, ob sie das Gesagte wirklich verstehen oder zu verstehen versuchen, oder ob sie zu verstehen vorgeben, um ihre Überlegenheit zu behalten. Vielleicht schweigen sie auch lächelnd, weil sie Angst haben, einen Fehler zu machen, und weil sie sich nicht wirklich sicher sind. Manche Kranken empfinden dieses Lächeln als vertrauenerweckend. Immer wenn ich an diese Szenen denke, möchte ich am liebsten das Therapiezimmer und diese Gespräche in ein Theaterstück einbauen … Sein Lächeln war genau so ein Lächeln. Doch ich glaubte wirklich an meine Worte, was immer er auch denken mochte. So sehr, daß ich sogar dachte, Şebnems Schicksal könnte Gegenstand eines Films
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