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Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Titel: Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Levi
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Freiheit zu geben … Vielleicht wollte sie auch, daß ich sie noch einmal zurückhielt. Auch wenn inzwischen soviel Zeit vergangen war … Jahre waren vergangen. Jahre … Jahre … Oder waren wir nach der ganzen langen Zeit immer noch am selben Punkt? … Wieder tat ich, was ich tun konnte. Wieder sagte ich ohne Rücksicht auf mich selbst, was ich sagen konnte.
    »Du machst es richtig … Auch meiner Meinung nach ist es einen Versuch wert …«
    Ich schaute weiter aufs Meer. In dem Moment fühlte ich ihre Blicke auf mir. Ich hatte feuchte Augen. Eigentlich waren es Tränen, Tränen, die ich nicht länger verbergen konnte und die mich überdeutlich verrieten. Ich wollte nicht, daß sie mich so sah. Doch ich spürte, daß sie mich ansah. Unwillkürlich wandte ich ihr mein Gesicht zu. Ich hatte mich nicht getäuscht. Sie schaute mich wirklich an. Sie lächelte. Als wollte sie sagen, sie sähe nun viel Verborgenes. Sie streichelte leicht meine Wange, über die die Tränen liefen. Ich konnte mich nicht mehr verstecken. Ich wußte, diese Tränen hatten viele Bedeutungen. Viele Bedeutungen, die sich auf sie bezogen, auf Necmi und auf alles, was wir erlebt hatten … Welche davon hätte ich in mir verstecken können? … Ich hatte ihr gesagt, es sei einen Versuch wert. Es sei es wert, trotz allem, was geschehen war, ein Leben mit einem anderen zusammen zu versuchen … Das war das einzige, was ich tun konnte. Die Frage, die sie daraufhin stellte, während sie meine Wange, meine Tränen berührte, erschien mir, als befragte sie mich über eine ganze geschichtliche Epoche.
    »Ist es das wert? … Ist es das wirklich wert? …«
    Ich konnte sie nicht fragen, was ihre Frage eigentlich bedeutete. Ich würde endlich verstehen, was ich verstehen konnte. Was ich verstehen konnte und verstehen wollte … Was ich zu verstehen bereit war … Ich griff nach der Hand an meiner Wange. Hatte ich gesagt, was ich hatte sagen wollen? … Hatte ich es endlich sagen können? … Wir blieben eine ganz kurze Weile so. Für eine kurze Weile … Doch in Wirklichkeit waren das unendlich lange, viele Gefühle umfassende Augenblicke … Dann zog sie langsam ihre Hand zurück und steckte sie in ihre Hosentasche. Wieder schaute sie mit einem traurigen Lächeln. Sie hatte etwas aus der Tasche hervorgeholt, das sie nun fest in der Faust hielt. Sie streckte mir ihre geschlossene Hand hin. Als wollte sie, ich sollte sie halten und öffnen. Ich tat, was ich zu verstehen meinte. Ihre Hand lag nun zwischen meinen Händen. Auf ihrer geöffneten Handfläche lag jener Ohrring … Wieder jener Ohrring … Was sollte ich sagen? … Dieses Mal hielten wir beide den Ohrring. Wie gut umschrieben doch ihre Worte den Punkt, an dem wir uns befanden, besser gesagt, an den wir gelangt waren.
    »Entschuldige, daß ich den anderen nicht habe aufbewahren können … Wenn ich mich nicht verirrt hätte, dann hätte ich ihn aufbewahrt, ganz bestimmt … Alles ist nun so weit weg, so weit weg … Ich kann diesen Ohrring nicht länger tragen … Dies ist dein Ohrring, vor allem deiner … Für mich genügt es, wenn ich weiß, du hast ihn …«
    Ich war verdutzt und hielt inne. Dieses Mal wollte ich mich nicht fragen, wo ich mich eigentlich befand. Auch dieses Mal nahm ich das Anvertraute in die Handfläche, schloß die Hand und steckte den Ohrring wortlos in meine Tasche. Ihr Gesicht war wieder dem Meer zugewandt. Nachdem sie eine Weile geschwiegen hatte, preßte sie zwischen den Lippen mit jener flüsternden, wimmernden Stimme, die ich so gut kannte, ein paar Worte hervor, deren eigentliche Bedeutung ich erst erkennen konnte, als dafür die Zeit gekommen war …
    »Wir haben das Leben stets verfehlt, Isi …«
    Es war nicht leicht, ihr die Antwort zu geben, die ich geben wollte. Es gab auch keine Gelegenheit mehr dazu, denn in dem Moment hörte ich die Stimme von Şeli.
    »Da schau an … Wie ein altes Liebespaar …«
    In ganz ähnlicher Weise hatte Necmi sie angepflaumt in dem Augenblick, als Şeli Şebnem bei ihrer ersten Begegnung seit Jahren mit ganz anderen Gefühlen angesehen hatte … Zweifellos war ihr das nicht bewußt. Sie hakte sich bei Yorgos ein, und beide schauten uns an. Ich hätte am liebsten gesagt: ›Wer behauptet denn das Gegenteil?‹, doch das konnte ich nicht sagen. Das war unmöglich … Wir hatten nie ein Liebesverhältnis gehabt. Trotzdem versuchte ich, abgebrüht zu wirken …
    »Man überfällt andere Leute nicht einfach so … Wenn ihr uns nun beim

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