Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Titel: Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Levi
Vom Netzwerk:
zu Necmi hin. Verstand er ebenfalls das, was ich verstand? … Darauf brauche er keine Rücksicht zu nehmen, sagten wir zu Niso, aber wir fanden kein Gehör. Wir drängten ihn nicht. Ich verkniff mir aber nicht die Äußerung, ich könne ihn nicht einfach so auf weiter Flur aussetzen. Schließlich hätten wir doch ein Auto, ich würde ihn bis zu dem Haus bringen. Er wehrte sich nicht. Dann schwiegen wir. Sein Verhalten erschütterte uns alle drei ein wenig. Um das Schweigen nicht länger andauern zu lassen, flüchtete ich mich nach einer Weile wieder zum Fußball. Ich sagte, in der kommenden Saison könnten wir wieder gemeinsam im selben Stadion eine andere Aufregung erleben. Wir sollten den Abstand künftig nicht mehr so groß werden lassen. Er lächelte etwas traurig. Dann gab er eine sehr bewegende Antwort.
    »Das ist Schicksal … Wer weiß, wann …«
    In seinen Worten schwang auch Leid mit. Was fühlte er? … Das war schwer zu erraten. Ich konnte mich wieder nur auf ein paar Vermutungen stützen. Diese Melancholie übertrug sich dann auch auf mich. Ich konnte dasselbe sagen wie er. Wer weiß, wann … Diese Worte beschrieben meinen Zustand nur zu gut … Ein andermal erschien mir in dem Moment unendlich weit weg zu sein. Und doch hatte das, was ich erlebt hatte, mir diese Ferne wieder nahegebracht … So versuchte ich ihn zu ermutigen. Indem ich mich ein wenig lustig machte über die Melancholie, die ihn, wie ich sagte, plötzlich gepackt hätte … Im Grunde versuchte ich mich selbst zu ermutigen. War nicht ein Weg, um sich nicht unterkriegen zu lassen, sich über das Leben lustig zu machen? … Dann setzten wir ihn ab und fuhren nach Hause. Die Mädels waren ins Gespräch vertieft und sogar ein wenig angeheitert. Necmi ging sofort zu Şebnem hin. Ich übersah nicht, daß sie sich liebevoll umarmten. Konnten die Grundlagen dieser Nähe schon vor all den vielen Jahren bewußt oder unbewußt ohne mich gelegt worden sein? … Oder hatten diese Verluste sie einander nahegebracht? … Wer weiß … Woher auch die Antworten kamen, wie auch immer sie ausfielen, sie waren letztendlich traurig … Auch ich umarmte Çela. Anders ging es nicht in dieser Situation … Noch während sie mich umarmte, trat mir sofort die liebevoll gestrenge Frau gegenüber. Sie verweigerte mir zwar ein Lächeln nicht, schaute mich aber mit zusammengezogenen Brauen an, fast wie eine Mutter, die ihre Kinder tadelt, und fragte:
    »Was habt ihr denn gegessen? …«
    Wahrscheinlich hatte sie den Zwiebelgestank aus meinem Mund gerochen … Die Frage betraf uns beide. Uns blieb nichts übrig, als einander anzuschauen und die schuldig ertappten Kinder zu spielen. Doch Necmi, gemäß dem Prinzip ›Haltet den Dieb!‹, versäumte nicht, zum Gegenangriff überzugehen.
    »Und ihr habt getrunken! Ihr stinkt nach Alkohol …«
    Ein guter Ausweg. Natürlich wurde gelacht. Wir waren also gleichermaßen ›schuldig‹. Gemeinsam tranken wir noch alle ein Glas. Wir erzählten ihnen von dem Fußballspiel, sie uns von dem Film. Das war alles. Über Einzelheiten wurde nicht geredet, sie wurden nicht miteinander geteilt. Jeder hatte erlebt, was er erlebt hatte, und zog es vor, es in sich zu verstecken. Für mich hatte dieses Verbergen, beziehungsweise das kleine Spiel eine angenehme Seite.
    Nach einer Weile brachen sie dann auch auf. Ich erbot mich, sie nach Hause zu fahren. Necmi sagte, er würde das schon hinkriegen. Außerdem, was sollte das denn, immer mit dem Auto hin- und herzufahren? … Şebnem sollte endlich die Stadt besser kennenlernen, sollte in ihr leben. Es gab doch Busse. Ich antwortete nicht. Ich hatte sein Zuzwinkern, während er redete, so verstanden, daß er sie doch mit dem Taxi befördern wollte. Und daß die beiden allein bleiben wollten … Wir waren jetzt mitten in der Erzählung. Es war jetzt nicht mehr wichtig, wie sie wohl um diese Zeit ins Krankenhaus hineinkam und wie glaubwürdig oder wahrscheinlich jemandem vorkommen würde, was sie da erlebten. Wichtig war nur, was ich sah und was ich sehen wollte. Dort war die eigentliche Wirklichkeit. Wir waren jetzt so tief innerhalb der Erzählung, wie wir wollten. Und doch wußten wir alle noch nicht, wohin wir gehen würden, wohin wir würden gehen können …
    In den nächsten Tagen herrschte erst einmal Schweigen. Da ich für die ganze Sache von allem Anfang an die Verantwortung übernommen hatte, hätte ich eigentlich am liebsten alle einzeln angerufen und gefragt, was sie so machten,

Weitere Kostenlose Bücher