Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach
Mosaiktorte
Als wir an jenem Freitag zum Krankenhaus fuhren, freute sich jeder auf seine Weise. Meine Freude, mein Gefühl war zweifellos sehr verschieden von dem der anderen, es ging, zumindest nach meiner Ansicht, viel tiefer und weiter … Ich kannte den Weg nahezu auswendig. Doch diese Hinfahrt war anders als alle vorangegangenen, vor allem, weil diese Hinfahrt die letzte war … Angesichts dieser Tatsache konnte ich nicht anders, als mich noch einmal an meine erste Fahrt mit Necmi zu erinnern und dann an alle anderen Fahrten, bei denen ich mit meinen Fragen, Hoffnungen und Erwartungen ganz allein gewesen war. Was hatte ich nicht alles erlebt bei diesen Hin- und Rückfahrten … Wieweit konnte ich den anderen von dem erzählen, was ich empfand? … Sicherlich nur sehr wenig, verschwindend wenig … Doch ich erzählte trotzdem, dennoch erzählte ich. Das war die schönste Erzählung, die ich ihnen für den Weg und für das, was wir in kurzer Zeit erleben würden, geben konnte. Ich erzählte, wie ich Şebnem zum ersten Mal gesehen hatte, von ihrer Ferne, von den Chansons, die ich ihr vorgespielt, von den Bildern, die sie gemalt hatte, und von meinen langen, unbeantworteten Reden. Ich erzählte, wie sie sich an die Szenen, die Repliken aus dem Spiel und an ihre Rolle erinnert hatte, von ihrem Zimmer … Was ich mit Necmi besprochen hatte, was wir miteinander geteilt hatten … Natürlich sprach ich nicht über den Ohrring. Von jenem Ohrring hatte ich niemandem erzählen können und würde es auch nicht tun. Der Ohrring war meine Erzählung, war unsere Erzählung … Selbst als wir schon auf dem Parkplatz angekommen waren, erzählte ich noch weiter. Alle waren sehr beeindruckt von meinen Erzählungen. Wir blieben noch ein wenig sitzen. Schweigend … Dann legte Niso los. Er brachte mit seinen Worten eine Seite unserer Erlebnisse zur Sprache, die ich bisher nicht hatte sehen können.
»Schau mal einer an! … Wir sind hier zusammengekommen, und was ist passiert! Şebnem hat anscheinend auf uns gewartet …«
Ich konnte nichts dagegen einwenden, daß er die Entwicklung auf diese Weise deutete. Doch eine Stimme – vielleicht weil ich mich nicht von meinen Erlebnissen frei machen konnte – sagte mir, daß diese Geschichte so nicht enden würde. Für Niso mochte die Sache darauf hinauslaufen. Ihn erwartete ein Leben, das er sich in einem anderen Land aufgebaut hatte. Für Yorgos galt dasselbe. Ich aber … Ich würde hierbleiben. Ich würde wieder hierbleiben … Mit meiner Geschichte, meinem ›Jetzt‹ und allen meinen Möglichkeiten … Ich antwortete ihm aber auf seine Worte nicht so, wie mir eigentlich zumute war. Ich konnte lediglich eine Erwartung und eine Sorge formulieren. Selbst wenn er meine Aussage anders interpretierte …
»Mal sehen, was passiert … Wir sind halt auf einem Weg … Überall gibt es ein Ende …«
Şeli, die bis dahin geschwiegen hatte, sagte nun etwas, das im wahrsten Sinne mein Herz aufblühen ließ.
»Bravo! Ihr habt großartige Arbeit geleistet!«
Ja, wir hatten großartige ›Arbeit‹ geleistet. Dieses Lob konnte ich freudig im Namen von uns allen dreien annehmen. Dann stiegen wir aus dem Auto und gingen auf die Station zu. Daß mir die Führung zufiel, war erfreulich, doch aus anderer Sicht machte es ein bißchen traurig …
»Was ihr zu sehen bekommt, erschreckt euch vielleicht etwas. Euch erwartet da drinnen kein besonders angenehmer Anblick …«
Diese Worte hatte Necmi zu mir gesagt. Bei unseren allerersten Schritten … Sie nickten. Ich vermute, sie verstanden, was ich sagen wollte. Wir gingen hinein. Mitten auf der Station war ein ziemlich großer Tisch aufgebaut. Auf dem Tisch standen Plastikteller mit Keksen und kleinen Pizzen. Das waren die Vorbereitungen für unsere Party. Die Oberschwester empfing uns. Auch die übrigen Schwestern waren dort. Alle lachten. Einige Kranke standen um den Tisch herum, manche spazierten umher. Vielleicht würden sie nie dort herauskommen … Dann kamen Şebnem und Necmi und wurden mit Applaus begrüßt. Sie hatten sich mit ihrer Kleidung große Mühe gegeben. Als wenn … Als kämen sie aus einem Zimmer, um mit uns ihre Eheschließung zu feiern … Wir umarmten uns der Reihe nach … Şebnem sagte, sie fühle sich sehr seltsam, so als verließe sie ihr Zuhause, eine Familie. Es war nicht einfach. Sie hatte dort ihre Jahre, sehr lange Jahre, verbracht, und zwar weit entfernt von den meisten Menschen. Dort war nicht ihr Zuhause gewesen,
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