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Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Titel: Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Levi
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wurden Fotos gemacht. Niso, Yorgos und Şeli hatten Fotoapparate dabei. So nahmen wir auch auf diese Weise unsere Plätze in unserer Geschichte ein …
    Dann ging die Party zu Ende … Wir kamen zum bewegendsten Teil des Tages. Şebnem sagte, sie wolle ein wenig allein sein und im Garten spazierengehen. Wir sagten nichts dagegen, nur daß wir auf sie warteten. Necmi ging in das Zimmer, in dem sie jahrelang zusammen mit wer weiß welchen Enttäuschungen, Halluzinationen und Einsamkeiten gewohnt hatte, und kehrte nach kurzer Zeit mit einem kleinen Koffer in der Hand zurück. Das, was sie nach all der Zeit mitnehmen wollte, ließ sich in einem kleinen Koffer unterbringen … Was war das? … Was band sie an die gelebten Tage? … Wie viele Gegenstände waren es, die ihr wertvoll waren, die sie an diesen Ort banden? … Könnten wir unser Leben in so einem kleinen Koffer unterbringen, wenn wir irgendwohin gehen wollten? … Vielleicht war sie ja viel freier als wir alle … Viel unabhängiger als wir … Ich wollte an diese ihre Unabhängigkeit gerne glauben, als sie nach etwa einer halben Stunde mit einem vielleicht etwas traurigen, doch ebenso auch friedlichen Lächeln im Gesicht zurückkehrte. Wir versuchten, das alles für ganz normal und selbstverständlich zu nehmen, und taten so, als ob wir eine Freundin nach langer Krankheit aus dem Krankenhaus abholten. Nun kam die Abschiedszeremonie. Şebnem umarmte einzeln alle Anwesenden, Zafer Bey, die Schwestern und alle ihre Freunde dort. Alle lächelten und versuchten, nette Worte zu sagen. Als wir die Station verließen, kam Necmi näher und bat mich, ihn nicht allein zu lassen. Als die Freunde die Situation erkannten, sagten sie, sie würden mit dem Taxi zurückfahren. Wir gingen alle zusammen langsam zum Parkplatz. Während wir wieder kleine Späße machten … In einem Film wäre in so einer Szene wahrscheinlich ein romantisches Lied zu hören gewesen. Dieses Lied wurde in unserer Szene nicht gespielt. Doch das Lied in uns, das Lied, an dem wir seit Jahren geschrieben hatten, war uns genug, und zwar mehr als genug … Und das war in diesen Augenblicken auch unsere Wirklichkeit. Die andere Wirklichkeit, an die wir einander erinnern mußten, war die Probe, zu der wir uns am kommenden Tag in der Schule treffen würden.
    Im Auto setzte sich Şebnem neben mich. Sie schwieg. Es schien so, als befände sie sich nicht innerhalb des Spiels, sondern betrachtete das, was sie erlebte, eher von außen. Ich versuchte, sie mit lockeren Worten auf unser Ziel vorzubereiten.
    »Mach dir keine Gedanken, Fatoş Abla ist verrückter als du … Du wirst dich in dem Haus nicht fremd fühlen. Du gehst von einem Irrenhaus in ein anderes, verstehst du? …«
    Sie nickte und lächelte. Sie lächelte nur. Necmi lieferte ebenfalls seinen Beitrag.
    »Bisher habe ich es zu Hause mit einer Verrückten zu tun gehabt, nun sind es zwei … Der eigentlich Verrückte bin aber wohl ich. Was ich getan habe, das macht kein Mensch, der seine Sinne beisammen hat …«
    Wir lächelten uns noch ein wenig an. Schließlich versuchten wir einander Mut zu machen. Doch danach sprachen wir während der Fahrt fast nichts mehr. Es war unnötig, sich selbst und andere unter Druck zu setzen. Ich wußte, im Inneren sprachen wir sowieso mit uns selbst und miteinander. Dann kamen wir zu dem Haus. Immer stärker ergriff mich eine unbezwingbare Aufregung. Ich würde Fatoş Abla gegenübertreten, die ich seit so vielen Jahren nicht gesehen hatte. In diesem neuen Abschnitt meiner Erzählung hatte ich eine Begegnung mit ihr immer aufgeschoben. Irgendwie hatte ich ja gewußt, wir würden uns schon noch treffen. Nun war es soweit. Als hätte Necmi in meinen Augen, meinem Gesichtsausdruck meine Gefühle gelesen, flüsterte er mir, als wir durch die Tür des Appartementhauses traten, mit freundschaftlicher Stimme ins Ohr:
    »Sie ist sehr gealtert, du siehst es gleich. Sie ist noch immer ein verrücktes Huhn, aber inzwischen schon recht klapprig …«
    Seine Stimme war traurig. Es war deutlich, daß ihm der Zustand seiner Mutter Kummer machte. In dem Augenblick konnten wir freilich nicht über dieses Gefühl sprechen. Ich nickte und sprach das erstbeste aus, was mir einfiel.
    »Wer von uns ist nicht älter geworden …«
    War das eine banale Antwort? … Wahrscheinlich ja. Dann klingelten wir. Wir wußten, daß sie uns erwartete, deshalb blickten wir einander lächelnd an. Man versucht zu lächeln, um gewisse Sorgen zu überdecken

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