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Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Titel: Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Levi
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… Wir mußten nicht lange warten. Die Tür wurde geöffnet. Nun stand sie mir gegenüber. Eigentlich war sie gar nicht so alt geworden, wie Necmi gesagt hatte, um mich vorzubereiten. Sie schien bloß ein wenig kleiner geworden zu sein … Deswegen konnte ich nicht umhin zu denken, daß sich in seinen Worten ein anderes Gefühl, eine andere Einschätzung verbargen. Natürlich kam mir dieser Gedanke erst später. Einige Stunden nach dieser Begegnung und nach dem, was ich in diesem Haus erlebt hatte … Bei mir zu Hause, als ich versuchte, das Erlebte besser zu verstehen … In jenen Augenblicken der Begrüßung war es unmöglich, auf diese Feinheiten einzugehen. Denn Fatoş Abla tadelte mich sofort wie früher mit ihrer lebhaften Stimme und ihren Blicken. Mit der unverwüstlichen Liebenswürdigkeit und Unbedachtheit, wie ihr Sohn gesagt hatte … Ohne daß sie es für nötig hielt, zu verbergen, wie sehr sie sich über meinen Besuch aufregte und freute …
    »Wo steckst du denn, du Treuloser! … Man fragt doch mal nach, wie es geht, kümmert sich, wie es Fatoş Abla geht, ob es ihr gutgeht, ob sie gesund ist! … Aber nein! … Ihr seid irgendwohin verschwunden, klar … Du bist aber auch ziemlich alt geworden! …«
    Wir standen unter der Tür. Wir lachten. Das schönste Lachen von allen war Şebnems Lachen … Ich antwortete, ebenfalls lachend:
    »Du bist aber überhaupt nicht alt geworden, Fatoş Abla … Bist wunderschön, ich schwör's! … Wie hast du denn das angestellt? Hast du all die Jahre in der Tiefkühltruhe gesteckt? …«
    Das Geplauder unter der Tür, besser gesagt die Begrüßungszeremonie ging weiter. Die mit Neckerei vermischten netten Worte blieben natürlich nicht ohne Entgegnung:
    »Jetzt reicht's aber, Frechdachs! Der macht sich auch noch lustig, schau mal! …«
    Dann wandte sie sich liebevoll Şebnem zu.
    »Entschuldige, Kind … Herzlich willkommen … Kommt rein, ich habe euch an der Tür stehenlassen … Entschuldige … Die beiden da habe ich großgezogen. Was bist du doch für ein schönes Mädel … Komm, komm, nur zu …«
    Das so bezeichnete ›schöne Mädel‹ war eine über fünfzigjährige Frau. Aber Fatoş tat, als wäre eine junge Braut um die Zwanzig ins Haus gekommen … Dabei waren wir weder naiv noch unversehrt. Wir waren auch nicht so unschuldig. Dennoch war die Begrüßung sehr bewegend. Das Spiel war es dennoch wert, gespielt, erlebt zu werden. Wir alle waren jeder auf seine Weise beeindruckt … Necmi versuchte, die Stimmung ein wenig aufzulockern, indem er seine Mutter anblickte.
    »Und wir dachten schon, du läßt uns überhaupt nicht rein!«
    Fatoş Abla war entschlossen, dagegenzuhalten.
    »Los, los, rede nicht soviel, du Naseweis! Wäre dieses Mädel nicht da, dann hätte ich dich schon gehörig abgekanzelt …«
    Sie schaute Şebnem freundlich an. Wir traten ein und setzten uns in den Salon. Ich schaute mich um. Die Einrichtung schien mir kaum verändert. Als wäre die Zeit stehengeblieben. Als wäre ich in eine traurige Fotografie eingetreten. Was ich sah, gab mir einen weiteren Anhaltspunkt, wie die, die in dieser Wohnung wohnten, das Leben lebten und ertrugen … Plötzlich bemerkte ich, daß Necmi mich angrinste. Verstand er, was ich sah? … Als Antwort nickte und blinzelte ich ihm zu, das war das einzige, was ich in dem Moment tun konnte. Bei passender Gelegenheit würde ich ihm auch mein Gefühl mitteilen.
    Fatoş Abla kümmerte sich jetzt vor allem um Şebnem. Zuerst führte sie sie in der Wohnung herum, dann zeigte sie ihr ihr Zimmer. Ein Raum, der jahrelang als Abstellkammer gedient hatte, war ausgeräumt und in einen netten Wohnraum für sie verwandelt worden. An viele Details war gedacht worden. In einer Ecke des Zimmers stand sogar eine Staffelei mit Farben und einigen Pinseln. Das Zimmer, das all die Jahre viele Erinnerungen aufbewahrt hatte, erwartete die Rückkehr zu einem neuen Leben. Als wir durch die Tür eintraten, fiel durch die Vorhänge ein angenehmes Licht herein. Necmi ging hin und zog die Vorhänge auf. Als wollte er sagen: Das Spiel beginnt … Dann sagte er zu Şebnem :
    »Das ist nun dein Zimmer … Wenn etwas fehlt, sag es …«
    Wie Şebnem daraufhin ein wenig verlegen, aber liebevoll Necmi anschaute, war äußerst bewegend. In dem Moment hakte Fatoş Abla sich bei mir unter und versuchte, mich in den Salon zu ziehen, indem sie in ironischem Tonfall so laut, daß alle es hörten, sagte, man solle die ›jungen Leute‹ nun lieber

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