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Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Titel: Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Levi
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allein lassen … Sie wollte unbedingt mit der neu ins Haus Gebrachten das Spiel Braut oder Geliebte spielen. Ich bin mir sicher, auch ihr war bewußt, daß das Leben ganz anders verlief. Doch sie war nun eben mal Fatoş Abla. Sie wollte dieses Spiel unbedingt erleben … Was es zu erleben gab, mußte sie auskosten … Bis zum Ende … Ohne darauf zu achten, daß es andere, seitens der Realität geforderte oder diktierte Möglichkeiten gab … In dem Moment zeigte uns Şebnem jene Realität, besser gesagt jene Seite unserer Realität. Ihre Stimme war fast zu einem Flüstern geworden.
    »Kann ich ein wenig allein sein? … Ich möchte auch meine Sachen einräumen.«
    In diesem Flüstern war wieder jenes Wimmern. Jenes besorgniserregende Wimmern … Wir fühlten uns aber außerstande, etwas einzuwenden. Necmi berührte ihre Schulter, als er das Zimmer verließ. Und sie berührte seine Hand auf ihrer Schulter … Dann schlossen wir ihre Tür und gingen in den Salon hinüber. Fatoş Abla fragte in der uns wohlbekannten Naivität, ob sie etwas falsch gemacht habe. Wir versicherten ihr, daß dies nicht der Fall sei und sie sich keine Sorgen machen solle. Auf derartige Reaktionen müßten wir gefaßt sein. Sie nickte, wie um auszudrücken, daß sie verstanden hatte … Sie war ein wenig bestürzt. Anscheinend hatten unsere Worte sie nicht besonders überzeugt.
    Ich setzte mich im Salon in einen der Sessel, um mich von der Szene zu erholen, die wir eben erlebt hatten. Auf den Gesichtern der anderen las ich dasselbe Bemühen. Vielleicht gelang es, diese drückende Stimmung ein wenig aufzulockern, wenn wir mit Fatoş Abla wieder zu unserem Spiel der Neubegegnung zurückkehrten. Sie schien bereit, möglichst alles zu tun, um dieses Spiel noch auszudehnen, und entschlossen, mich mit ihren Vorwürfen nicht zu verschonen. Ich mußte meine Rolle als schuldiger Junge gebührend spielen. Wie hätten wir einander sonst das schenken können, was vor Jahren gewesen war … Natürlich nahm auch Necmi an dem Spiel teil. Nach dem Motto ›mitgefangen, mitgehangen‹ … Was wir erlebten, war sozusagen eine süße Trauer … Oder eine bittere Freude … Diese Formulierungen mögen einem unlogisch vorkommen. Doch um das auszudrücken, was ich in jenen Augenblicken fühlte, fand ich keine anderen Worte, und ehrlich gesagt finde ich auch heute noch keine … Dann versuchte Fatoş Abla, einen kleinen Gang durch mein Leben zu machen … Auch dieses Mal versuchte ich, den Schmerz zu ertragen, daß ich längst nicht alles sagen konnte. Wieder versteckte ich mich hinter den Bedeutungen von Worten, die von anderen vorbereitet worden waren. Soweit wie möglich, soweit ich konnte … Sie fragte nach meiner Frau, nach meiner Arbeit. Ich bemühte mich, das Bild eines glücklichen Mannes zu zeichnen. Sie fragte nach meinen Kindern. Hier fiel es nicht leicht, ein ebensolches Bild zu zeichnen. Wieder tat ich, was mir möglich war. Von diesem Aspekt meines Lebens hatte ich bisher noch nicht einmal Necmi ausreichend erzählen können … Sie hatte mir wahrscheinlich nichts angemerkt, denn im Hinblick auf meinen Bericht sparte sie auch dieses Mal nicht mit Tadel an ihrem Sohn. Der Mann führe ja ein unstetes Vagabundenleben. Als ob er ihr auf diese Weise je einen Enkel schenken könnte … Wenn er ihr doch einen Enkel schenken könnte! Ich dachte, das seien doch wohl nicht ihre eigenen Worte, das könne nicht sein … Die Fatoş Abla, die ich kannte, war keine Frau, die sich in solche Plattitüden hätte verwickeln lassen. Sie beabsichtigte damit zweifellos etwas anderes. Vielleicht setzte sie ja auch den alten Krieg fort. Vielleicht würde dieser nie aufhören. Ich schaute Necmi an. Mir entging nicht, daß er zu lächeln versuchte. Ich mußte ihm zu verstehen geben, daß ich an seiner Seite sei, auch um mich selbst besser zu fühlen.
    »Manchmal läßt es sich besser leben, wenn man kein Kind hat, Fatoş Abla … Wenn man ein Kind hat, hat man Sorgen … Schau, du hast zum Beispiel jetzt Sorgen … Necmi hingegen ist frei wie ein Vogel … Und außerdem, wie viele Menschen in diesem Land haben das zu tun gewagt, was er getan hat?«
    Mehr konnte ich nicht sagen. An sich war ich in Gedanken weit über das Bild, das ich mit diesen Worten malte, hinausgegangen. Doch das wußte nur ich, konnte nur ich wissen. Jedenfalls in dem Moment … Ich schaute aus den Augenwinkeln zu Necmi hin. Er hatte mein Bemühen bemerkt, ihm beizuspringen. In dem Augenblick fühlte ich

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