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Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Titel: Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Levi
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mein erstes Schildkrötenbein gegessen habe, unsere erste Diskothek in Elmadağ, Hydromel, das Varol, das im Vergleich zu den Puffs in Karaköy eine ›luxuriösere‹ Atmosphäre hatte, Pizza Pino, die wir für die erste italienische Pizzeria in Istanbul gehalten und wo wir uns alle über die Süßspeise ›Mädchentraum‹ amüsiert hatten … Was für Geschichten, Träume und unvergeßliche Erinnerungen waren mit all diesen Orten verbunden … Wieder einmal brachten die Bilder neue Bilder hervor. Ich fuhr auf einer geschichtsträchtigen Straße. Vielleicht deshalb bemerkte ich nicht, wie die Zeit verging. Als ich an die Ecke gegenüber der Polizeistation kam, sah ich Necmi, wie er beim Warten auf mich zerstreut in der Gegend herumguckte. Ich hielt an. Wieder stieg er grinsend ein. So wie beim ersten Mal … War das eine Art des Sichversteckens, eine Verteidigungsstellung? … Vielleicht. Ohne sich auch nur nach meinem Befinden zu erkundigen, ohne mich anzuschauen, nannte er das Fahrziel, als verriete er ein Geheimnis:
    »Psychiatrie und Nervenkrankenhaus in Bakırköy.«
    Ich wußte schon wieder nicht, was ich sagen sollte. Zu denken, daß Şebnem dort arbeitete, erschien mir nicht sehr logisch. Ich wußte, welchen Weg sie vor Jahren eingeschlagen hatte. Dann blieb nur eine Möglichkeit offen. Eine Möglichkeit, die den Gram in Necmis Gesicht sehr gut erklären konnte … Doch ich stellte die Frage nicht, die ich stellen wollte. Ich wartete auf eine Erklärung von ihm. Nur so konnte ich meine Ratlosigkeit verbergen. Nur so konnte ich der Antwort aus dem Weg gehen, die ich fürchtete. Eine Weile fuhren wir schweigend. Wie erwartet war er es, der das Schweigen brach. Als hätte er meine stumme Frage gehört.
    »Du vermutest richtig. Sie ist schon seit Jahren dort.«
    Bei diesen Worten schaute er nicht zu mir hin. Wieder zitterte seine Stimme. Beide waren wir sozusagen auf die Straße verbannt wie in ein Zimmer, in das einzutreten wir uns fürchteten. Wir redeten weiterhin nichts. Wir fuhren ›dorthin‹, wir fuhren nur. Plötzlich wendete er mir das Gesicht zu. Seiner freundschaftlichen, lieben Stimme schien ein leicht herausfordernder Ton beigemischt zu sein.
    »Bist du dir wirklich sicher, daß du sie sehen willst? … Du kannst das Ganze immer noch abblasen. Womöglich erträgst du nicht, was du zu sehen bekommst …«
    Ich schaute weiterhin auf die Straße. Ich konnte nicht entscheiden, ob in seinen Worten ein freundschaftliches Beschützen lag oder eine Geringschätzung, die ich nicht sehen wollte. Doch offen gesagt war ich ein bißchen sauer. Ihm war nicht bewußt, was ich erlebt hatte, welche Erinnerungen das, was ich hörte, bei mir auslöste. Andererseits hatte ich mich auch nicht bemüht, mich mitzuteilen. Ich schaute ihn bloß kurz an. Ich wollte, daß er die Entschlossenheit in meinen Augen sähe. Dieses Mal schaute er auf die Straße. Es blieb mir also nur übrig, auf die Überzeugungskraft der Worte zu vertrauen. Das war der wirkungsvollste Weg, sowohl meine Entschlossenheit, die ich durch Blicke nicht hatte mitteilen können, als auch meinen Unwillen, den ich wegen seines Benehmens fühlte, irgendwie ausdrücken zu können.
    »Es gibt kein Zurück! … Wir gehen bis zum Ende! …«
    Er antwortete nicht. Dieses Mal schaute ich ihn nicht an. Vielleicht sagte er innerlich ›auf deine Verantwortung‹. Ich forschte dem nicht nach. Ich wollte Bescheid wissen.
    »Los, erzähl! …«
    Ich versuchte, mit einem schnellen Seitenblick den Ausdruck auf seinem Gesicht zu erkennen. Es gelang mir nicht. Er hielt das Gesicht noch immer auf die Straße gerichtet. Nachdem er eine Weile geschwiegen hatte, begann er die Geschichte vom Kern der Sache her zu erzählen.
    »Ihrer Krankenakte nach ist sie seit zwanzig Jahren dort … Sie spricht nicht. Das ist ihr Dauerzustand. Man weiß nicht, was sie sieht, wie sie das Gesehene sieht. Ich merke auch nicht, ob sie mich erkennt. Sie sitzt halt nur da … Manchmal lächelt sie. Manchmal malt sie Bilder …«
    Ich wollte in diesem Augenblick nur schweigen, nichts als schweigen. Schweigen, solange es ging … Damit ich diese mir unerwartet mitgeteilte Schweigsamkeit besser sehen, hören und mir klarmachen konnte … Die Vergangenheit, die ich weit hinter mir gelassen zu haben glaubte, zog mich eilig an, die gelebte Gegenwart wurde mir scheinbar aus den Händen gerissen und in einen Abgrund versenkt. Şebnem … Die kleine, dunkle Şebnem mit den riesengroßen, schwarzen Augen

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