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Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Titel: Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Levi
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Erinnerungen behaftet … Die Erinnerungen waren auch geprägt von der Gewohnheit, unbedingt zu Hause zu frühstücken. Von dieser kleinen Zeremonie wollte ich nie lassen. Für mein Wohlbefinden war diese allmorgendliche Zeremonie notwendig. Nach den Nächten, in denen ich bei Necmi übernachtet hatte, waren wir morgens oft ohne Frühstück aus dem Haus gegangen. Plötzlich fielen mir jene Tage ein. Und wie ich den ganzen Tag wegen des fehlenden Frühstücks nur schwer zu mir gekommen war und wie ungeduldig ich darauf gewartet hatte, möglichst schnell nach Hause und zu meiner Ordnung zurückzukehren … An einem Morgen wie diesem war das Gefühl der Erinnerungen unausweichlich. Es war ja eine Zeit der Erinnerung, des jahrelang aufgeschobenen Rückblicks … Plötzlich merkte ich, daß ich Sehnsucht nach der damaligen Zeit hatte. Auch wenn mir das Erinnerte zeitweilig viele Enttäuschungen bereitet hatte, an deren Auswirkungen ich immer noch litt … Schließlich konnte der Mensch manchmal sogar nach Momenten suchen, die ihn unglücklich gemacht hatten, wenn er sah, daß sie sehr entfernt lagen. Dann rückt das Ferne näher und kann dazu führen, daß man das Vergangene mit anderen Augen sieht, und das erleichtert es einem sogar, Frieden zu schließen mit den Schmerzen, die einen innerlich haben bluten lassen. Man möchte eine bittere Freude gewinnen aus manchen Schmerzen, weil sie sich in alten Bildern versteckt haben … Meine Prägung in bezug aufs Frühstück reichte versteckt jedoch in eine viel frühere Zeit zurück. Ich erinnerte mich, wie ich auf meinen Vater gewartet hatte, wenn er an den Freitagabenden auf dem Heimweg von der Arbeit die Zutaten fürs Frühstück mitgebracht hatte, und bemerkte, wie sehr ich diese Zeit vermißte. Er hatte stets in Eminönü bei einem bestimmten Delikatessenhändler eingekauft. Schon in jener Zeit begann die Kultur der meze , der Vorspeisen also, ein Bestandteil meines Lebens zu werden. Szenen eines alten Films zeigten, wie er die heimgebrachten Päckchen öffnete und seine Einkäufe in den Kühlschrank legte. Deswegen war es auch faszinierend, sich daran zu erinnern, was meistens in den Päckchen war. Ein Kringel Salami, die ganz anders ausschaute als die ursprüngliche, aber niemand kam auf die Idee zu fragen, warum man sie ›ungarisch‹ nannte; ein ziemlich großes Stück gereifter Pfefferschnittkäse, den es heutzutage nirgends mehr gibt; ein wenig rohes tarama , 10 ein wenig Gänseleber, ein paar geritzte, grüne Oliven, ein sahniger, weicher Frischkäse, ein wenig Anchovispaste … All das war gut, doch das eigentliche Prachtstück waren die ›Fischeier‹ aus dem Rogen der Meeräsche, die er nicht immer kaufte und die es nur bei guten Delikatessenhändlern gab. Die hatten natürlich ihre ganz eigene Tradition. Die Güte des ›Stücks‹ konnte man messen mit Qualitätskriterien wie Größe, Feinheit des umhüllenden Bienenwachses, so daß man gegen das Licht das Innere durchscheinen sah. So wie das auch jetzt ist … Manche Geschmacksnoten, etwa des gepfefferten Schnittkäses, der wirklich eine gewisse Schärfe hatte, und auch der Gänseleber, die höchstwahrscheinlich gar nicht aus Gänseleber gemacht worden war, haben sich jeweils in kleine Legenden verwandelt und sind verschwunden, doch die ›Fischeier‹ existieren weiterhin für diejenigen, die es wollen … Jene Frühstücke bekamen durch die kleinen Feinheiten, deren Wert ich erst Jahre später angeben konnte, ihren eigentlichen Sinn …
    Doch diese Speisen wurden auch meistens am Sonntagabend gegessen. Denn da war das Essen, das bis zum Freitagmittag gekocht sein mußte, weil gegen Abend der geheiligte Schabbath begann, an dem keine Arbeit getan werden durfte, aufgegessen und alle. Das war die schönste Zeit jener Abende, an denen mir traurig bewußt war, daß ich am nächsten Tag Schule hatte. Schön war es auch für die Frauen des Hauses, meine Mutter und meine Großmutter väterlicherseits … Denn durch diese Regelung waren sie von der Plage des Essenkochens befreit. Der Tisch war reichhaltiger gedeckt als beim Frühstück. Außer dem schon Erwähnten gab es manchmal noch eingemachte Makrele, Räucherfisch, kalten Braten oder gebeiztes Rinderfilet, geräucherte Zunge und Kartoffelchips, die damals nicht so verbreitet waren wie heute und die der Delikatessenhändler herstellte …
    Es war ganz unvermeidlich, daß ich mich an jenem Morgen bei jenem Frühstück an diese verloren geglaubten Momente, die

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