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Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Titel: Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Levi
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erinnern konnten, diskutierten und das, woran diese Szenen uns erinnerten. Als Çela uns im Tonfall einer Mutter zum Essen rief, war fast eine Stunde vergangen. Die reale Zeit reichte wieder einmal nicht für die Zeit, die wir für unsere Reise in die Vergangenheit brauchten. Die Worte, mit denen sie uns rief, brachten auch diese Tatsache zum Ausdruck.
    »Bitte zu Tisch, die Herren! … Ihr könnt beim Essen weiterreden …«
    Als wir uns an den Tisch setzten, wußte ich, ich würde unser unterbrochenes Gespräch in einem anderen Ton fortsetzen. Manche Dinge würden vertieft werden, ganz sicher. Außer den gefüllten Zucchini mit kaşkarikas stand eine große Salatschüssel auf dem Tisch, ein frisch gebackenes börek , das Amulettbörek hieß, und Jasminpilav, der herrlich nach frischer Butter duftete. Ein wunderbarer Anblick bot sich uns. Wir genierten uns nicht, unsere Freude wie Kinder zu zeigen. Der Geschmack der Speisen steigerte diese Freude noch. Natürlich machte unsere Freude auch Çela glücklich. Das war ein erwarteter Triumph. Es gab keinen Grund, ihr diesen zu verweigern. Den ersten Schritt tat Necmi.
    »Diese Zucchini sind überwältigend. Seit Jahren habe ich keine mehr gegessen. Und wie sehr habe ich mich danach gesehnt. Die Süße ist auch gerade im richtigen Maß vorhanden, deine Hände seien gesegnet …« 11
    An seinen Worten merkte man natürlich, daß er dieses Gericht sehr gut kannte. Ich verstand, daß dies zweifellos seine Absicht war. Die Verblüffung in Çelas Gesicht war sehenswert. Ich mußte eine Erklärung geben.
    »Necmi ist oft zu uns nach Hause gekommen. Er kennt das Gericht von meiner Mutter. Er kennt auch ihre Lauchköfte, die weißen Bohnen mit Spinat, auch das Rosenbörek mit Aubergine und weiß sogar, daß wir es bulemika nennen …«
    Die Verblüffung von Çela wurde noch etwas größer. Ich konnte sehen, daß auch Freude und ein wenig Aufregung dabei waren. In diesem unerwarteten Gefühlsgemisch ging es vielleicht darum, daß sie sich selbst nicht fremd fühlte, beziehungsweise befreit war von der Last, einem Menschen, der sich in dieser Umgebung fremd fühlen konnte, einige fremde Geschmacksrichtungen zu erklären; außerdem sah sie die nur auf einem Irrtum basierende Fremdheit durch eine solche Gemeinsamkeit plötzlich zusammenbrechen … Es schien, als sähe auch Necmi, was sie fühlte. Ich hätte mir ansonsten nicht erklären können, warum er das Spiel fortsetzte, indem er verschmitzt einen Löffel voll kaşkarikas auf seinen Teller nahm.
    »Nun wollen wir doch mal sehen, wie Knoblauch, Zucker und Zitrone in diesem kaşkarikos gemischt sind.«
    Çela mußte lachen. In dieses Lachen stimmten wir mit ein. Es war das erste echte und ehrliche Gelächter an diesem Abend. Çela geriet langsam in Stimmung. Sie schaute Necmi sehr kameradschaftlich an.
    »Du kannst wohl auch kochen.«
    Diese Frage lud Necmi ein, sein scherzhaftes Spiel fortzusetzen.
    »Das können wir, Gott sei Dank! … Doch Tante Mati war da nicht sehr hilfreich …«
    Dieses Mal brach ich in Gelächter aus. Çela schaute mich lächelnd an, als brauchte sie eine Erklärung, um besser zu verstehen. Daraufhin erzählte ich, wie meine Mutter Necmi, als er das Rezept dieser Gerichte hatte haben wollen, in ihrer liebenswürdig strengen Art getadelt hatte. Bei der Wiedergabe übertrieb ich ihre jüdische Aussprache gehörig. Wir lachten wieder. Çela lachte weniger, sie schaute mich sogar etwas befremdet an, weil ich mich derart über meine Mutter lustig machte. Ihre Vorhaltung machte mir eine Tatsache klar, die ich bisher unbeachtet gelassen hatte.
    »Das gehört sich nicht, du kannst dich doch nicht derartig über eine Verstorbene lustig machen! …«
    Offenkundige Tatsache war, daß sowohl meine Mutter als auch mein Vater inzwischen gestorben waren. Doch ich hatte nicht daran gedacht, daß Necmi das gar nicht wußte. Wieso hatten wir nicht darüber gesprochen? … In jenem Augenblick konnte ich darauf keine Antwort geben. Dabei hatte es eine Gelegenheit gegeben. Er hatte ja auf der Herfahrt im Auto meine Mutter erwähnt … Warum hatte ich es dann nicht gesagt? … Weil ich nicht daran gedacht hatte, daß er es nicht wußte, oder weil ich es nicht sagen konnte? … Warum hatte er nicht gefragt? … Das war seltsam, wirklich sehr seltsam. Vielleicht hatten wir auch angefangen, Tode im Leben als sehr wahrscheinlich anzusehen … Sehr wahrscheinlich und alltäglich … So sehr, daß man nicht das Bedürfnis

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