Wo wir uns finden
Schnauze voll. Und wir wollen nach Haus. Was bringt uns die Bundeswehr, die Russen sind eh viel mehr.
Ein Streifenwagen stand vor dem Bahnhof. Hinter dem Steuer saß ein Beamter und biss in einen Leberkäsewecken, Krümel übersäten seine Uniform, sein Schmatzen konnte Karl durch das heruntergelassene Beifahrerfenster hören. Dass sich Grams von so einem nicht finden lassen würde, dachte Karl und ging vorbei an den Pennern, die um das Kriegerdenkmal im Park saßen und soffen. Mehrmals schritt er die Fußgängerzone auf und ab. Das Shining-Star, von dem Grams ihm erzählt hatte, wo er früher die Nachmittage öfter verbracht hatte, fand Karl nicht gleich. Der Schriftzug über der Treppe, die Stufen aus Marmor in das Untergeschoss, mit dem schwarzen Kantenschutz aus Kautschuk, der Geruch nach Urin. »Zu vermieten«, stand auf der gläsernen Front des Billardtreffs. Durch ein Oberlicht in der Mitte wurde der große Raum in fahle Helligkeit getaucht. Das Dutzend Billardtische sah aus wie eine Herde Tiere, die in seltsamer Gleichförmigkeit erstarrt war auf einer Wanderung am Meeresgrund vor Hunderten von Jahren. Der zerschundene grüne Filz wie ein von Algen und Muscheln überzogener Panzer. Karl spuckte gegen das Glas der Front und ging. Auf den Kacheln neben einem Pissoir auf der Bahnhofstoilette stand mit Edding geschrieben: »Frank war hier.«
Karl lächelte.
Als er nach Hause kam, lief er gleich nach oben, fragte seine Mutter, ob jemand für ihn angerufen habe, und saß bis in die Nacht auf dem Sofa neben dem Telefon. Er hatte keine Idee, wo Grams sein konnte, wusste nicht einmal, warum er weg war. Er stellte sich vor, wie er in Berlin am Bahnhof Zoo auf einer Bank saß, seine Haut weiß im Neonlicht, das sich in seinen glasigen Augen spiegelte. Heroin, dachte er ständig, wie er ehrfürchtig gedacht hatte an Grams’ erstem Tag auf dem Gymnasium in Gefrieß: Der nimmt bestimmt Drogen.
Die Tage vergingen, Karl kontrollierte den Rathausplatz, verließ den Donnerhügel wieder, ohne etwas getrunken zu haben, da Köter den Kopf schüttelte und die Schultern hob, betrat er die Kneipe; er gab bei einem Mathetest ein leeres Blatt ab und wartete und hoffte.
Er sprach mit Anna am Telefon, die sagte, Frank wolle sie doch alle nur verarschen, und dann doch fast zu weinen begann. Dass der Dix bestimmt mit ihm durch die Stadt fahre, um ihm suchen zu helfen, sagte sie, geh mal bei ihm vorbei am Abend, und gab ihm die Adresse. Als er sich von der gegenüberliegenden Straßenseite das dreistöckige Mehrfamilienhaus anschaute, in dem Dix mit seiner Mutter wohnte, klopfte ihm jemand von hinten auf die Schulter. Grams stand in einem Fenster im Erdgeschoss eines Hauses, eine nikotingelbe Gardine im Rücken: Komm rein, sagte er und lachte. Seine Augen waren rot, seine Haut bleich: Lass mal meinen Kollegen rein, sagte er über seine Schulter ins Innere des Hauses: der Kommissar Klobedanz ist mir zu Hilfe gekommen.
Eine Frau öffnete Karl die Tür. Ihre Haut war gelb, ihre Lippen rot angemalt und schmal. Durch den Flur kam er ins Wohnzimmer und fand Grams in einem Sessel vor dem Fenster, eine Bierflasche in der Hand. Karl fragte sich, ob der Sessel so groß oder ob Grams geschrumpft sei. Er hob die Hand und schwieg. Die Frau verschwand in der Küche.
Die glaubt wirklich, ich bin Polizist, sagte Grams und lachte, was mehr ein Husten war.
Sie bläst dir einen, wenn du willst, sagte er und rief: Inge, nimm deine Zähne raus und kümmer dich mal um den Kollegen!
Ich mach Abendbrot, sagte sie, und etwas schepperte.
Lohnt sich zu warten, sagte Grams und schmatzte.
Karl stellte sich den zahnlosen Mund der Frau vor und bekam das Bild nicht mehr aus dem Kopf, wie sie mit ihrer milchig belegten Zunge an seinem Pimmel leckte. Es war heiß und stickig im Zimmer, es stank nach abgestandenem Rauch und Schweiß, aber es war sauber, die Polstermöbel geflickt an manchen Stellen. Überall waren Puppen verteilt, von denen die eine Hälfte Kleidchen trug und die andere Hälfte in Schlafanzügen oder Nachthemden steckte.
Schlafenszeit, sagte Grams: sie zieht sie jeden Abend und Morgen um – du hast sie gestört, er tippte sich mit dem Zeigefinger an die Schläfe und sah wieder aus dem Fenster.
Und was machst du hier? fragte Karl.
Observieren, sagte Grams gedehnt: wenn der sich nur einen Ausrutscher erlaubt.
Die Bullen waren schon in der Schule wegen dir, sagte Karl.
Grams lachte: Wer hat denn meinen Eltern gesteckt, dass ich nicht nach
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