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Wo wir uns finden

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Titel: Wo wir uns finden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Findeis
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Benzin des restwarmen Motors roch und für eine Sekunde das Bild einer abbrechenden und ihm den Finger abtrennenden Klinge im Kopf hatte, steckte er das Messer mit aller Kraft in das schöne Weiß des Weißwandreifens, das Gummi gab nach, als schneide er in ein zartes Stück Fleisch. Aber erst als er die Klinge wieder herausgezogen hatte, entwich die Luft. Karl erschrak, als sich ihm der Kotflügel entgegenneigte. Als habe er in etwas Lebendiges gestochen, kam es ihm vor, dann lief er gebückt um den Wagen und zerstach nacheinander die restlichen Reifen, bei jedem von Neuem erstaunt, wie seltsam sich das Eindringen der Klinge anfühlte, der Widerstand erst, dann, als öffne sich das Material für ihn. Sie würden davon erzählen, Grams und Anna, wie Karl alles gerettet hatte, auf der Hochzeit einen Toast ausbringen auf ihn, ihre Kinder wären seine Patenkinder und wüssten immer, wem sie alles zu verdanken hätten. Und obwohl niemand rief, nirgends ein Licht aufleuchtete oder eine Tür geöffnet wurde, rannte er davon, dachte dabei immer an das schöne Weiß der Weißwandreifen und wie ihm sein Bruder einmal einen Prospekt gezeigt hatte mit einem Satz für seinen Kadett und wie er dabei mit den Fingern über das Bild gestrichen hatte immer wieder, als würde jedes Staubkorn darauf das Glück seines Traums schmälern. Er rannte, und als er am Ende der Straße jemanden aus dem Tor der Michaelskirche treten sah, bog er in eine Seitenstraße, die zwischen der Schrebergartensiedlung und einem Werkhof entlangführte. Laufschritte hallten hinter ihm auf dem Kopfsteinpflaster, sie blieben weit entfernt, vielleicht war es nur das Echo seiner eigenen. Ein Wind bewegte die Blätter der Bäume in den Gärten, in einer der Hütten brannte noch Licht, über dem Pochen seines Pulses hörte er ein Radio: Santa Maria, Insel, die aus Träumen geboren.
    Er schlug einen Haken in eine Lieferanteneinfahrt und blieb an die Wand gelehnt stehen. Das Messer hatte er die ganze Flucht über in der Hand gehalten, die Klinge klappte er zurück in das Heft und versuchte, über seinem Keuchen auf die Schritte zu horchen, die hinter ihm gewesen waren. Im Ohr klang ihm immer noch: Ich hab meine Sinne verloren, in dem Fieber, das wie Feuer brennt – obwohl die Hütte längst außer Hörweite sein musste. Die Müllcontainer stanken. Hier war Gefrieß zu Ende, nur wenige Hundert Meter weiter bauten sie den Autobahnzubringer. Und Grams kam nicht, Karl hatte sich getäuscht. Dann tauchte er auf wie ein Schatten aus dem Nichts, die Stiefeletten in der Hand und die Arme in die Luft gereckt wie beim Torjubel.
    Er umarmte Karl: Du bist der Beste, flüsterte er ihm ins Ohr: du bist echt der Beste!
    Dann geh jetzt aber heim, sagte Karl.
    Grams hatte nachträglich ein Attest ausgestellt bekommen für seine Fehlzeit. Sein Vater hatte alles geregelt mit dem Rektor. Keiner erfuhr, wo er gewesen war und warum. Niemand verdächtigte sie, die Reifen an Dix’ Wagen zerstochen zu haben. Öfter als in den Donnerhügel gingen sie jetzt ins Fischerstüble. Die Gäste in dem kleinen, brusthoch gekachelten Raum waren ältere Arbeiter und Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger; die Flasche Bier kostete achtzig Pfenning, der Korn sechzig, sie klopften Skat und Schafskopf auf den vom Skat- und Schafskopfklopfen polierten Tischen, die Musik kam aus einem Radio, bei dem der Wirt alle halbe Stunde den Sender nachstellen musste – der Klang des Radios war dünn und ohne Bässe. Es stank nach dem Qualm der Fehlfarben und Reval und Roth-Händle, nach dem Schweiß der Arbeiter, die um halb fünf den Raum betraten durch die verzinkte Blechtür und um zwölf in ihrer dunklen Nacht verschwanden.
    Bevor sich Dix zu seinen Kollegen setzte, begrüßte er Grams und Karl. Dass Grams seine Mutter, seinen Vater grüßen solle, sagte er immer, dass sie wirklich mal etwas zu dritt unternehmen sollten, Grams, Anna und er, vielleicht ins Kino oder nach Stuttgart, einen draufmachen, da fänden sie vielleicht ein nettes Mädel für Grams, sagte er und zum Wirt: dass ihre nächste Runde auf ihn gehe.
    Dix war einen halben Kopf kleiner als Grams, er sah ihn von unten herauf an, dass er ihn nachher nach Haus bringen könne, sagte er immer: Der kleine Umweg ist kein Problem.
    Dix trank nur ein Bier, er rauchte nicht, er erzählte keine dreckigen Witze, berichtete seinen Kollegen vielleicht von einer Wallfahrt mit seiner Mutter nach Heroldsbach, diskutierte manchmal über die Förster-Brüder, Hansi

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