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Wo wir uns finden

Wo wir uns finden

Titel: Wo wir uns finden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Findeis
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neulich ausgeliehen von der Videothek – so ein Scheiß, sagte er: play it again, Sam.
    Er bückte sich und formte einen Schneeball und warf und traf das Verkehrsschild, auf das er gezielt hatte. Das Dröhnen des losen Schildes verhallte langsam in der Ebene. Und von Musik versteht sie überhaupt nichts, sagte er: und trotzdem; er lachte, formte mit roten Händen den nächsten Schneeball und traf wieder das Verkehrsschild, diesmal mit noch mehr Wucht, sodass ein paar Krähen im Wald aufflogen. Schneeball um Schneeball warf er gegen das Schild, während sie darauf zugingen, seine Hände leuchteten rot, Grams aber schien die Kälte nicht zu spüren, warf aus nächster Nähe mit aller Kraft den letzten Schneeball gegen das Schild und sagte: Fotze!
    Karl schnitt Grimassen, um die eingefrorenen Muskeln in seinem Gesicht aufzuwärmen, und betrachtete den Freund, der die Hände in seine Jackentasche steckte und wieder durch die Zähne pfiff, und jetzt erkannte Karl, dass es die Melodie von As Time Goes By war.
    Der Nachmittag verging, und in der Dämmerung zog sich die weiße Ebene hin, die sich grau färben würde, bis die Wolken aufbrachen und das Mondlicht feine Schatten zeichnete. Karl schätzte, dass sie über die Hälfte des Weges geschafft hatten. Nur noch das Knirschen ihrer Schritte war zu hören und die allgegenwärtigen, nicht zu ortenden Geräusche des Waldes, an dessen Grenze sie jetzt entlanggingen – Rascheln im Unterholz, als führte der Waldboden unter den Schichten von Laub und Reisig ein Eigenleben, das nicht beeinflusst war von den Jahreszeiten oder den Menschen. Eine Krähe krächzte im konturlosen Himmel über ihnen. Schweigend drehten sie vom Gehölz ab und nahmen den Anstieg an der Burgruine vorbei. Bis sie ins Eselsburger Tal kamen, war es dunkel. Die steinernen Jungfrauen standen silbern in der eisigen Luft, ihre Reflexionen eingefroren und unsichtbar im Eis des Fischerteiches zu ihren Füßen. Die Hütte hob sich kaum ab von der Landschaft, Schnee lag dick auf dem Dach und reichte vom Boden bis fast zu den Fenstern. Niemand war da. Karl hatte kaum noch Gefühl in den Beinen, seine Füße waren taub. Er dachte an die gefütterten Wanderstiefel von Grams’ Vater und folgte ihm weiter ins Tal hinein und hoffte, dass er einen Schlüssel für die Hütte hatte. Aber Grams setzte sich auf die Bank, die kreisrund um eine Feuerstelle zementiert war, und sagte: Herrlich!
    Der Platz war überdacht, oberhalb der Feuerstelle befand sich ein Abzug mit Kamin. Karl setzte sich und betrachtete Grams, der eine Taschenlampe und Feueranzünder aus seinem Rucksack holte und sagte: Sieht nach einer sternenklaren Nacht aus.
    Karl sagte nichts.
    Anna und ich sind hier mit dem Fahrrad hingefahren, sagte Grams: sie hat mir gesagt, dass sie vorher noch nie eine Fahrradtour gemacht hat – wir haben den Anglern zugeschaut beim Teich hinten, und als wir zurück sind, hat sie gesagt: Das wird jetzt unser Platz – unser Platz, sagte Grams und brannte sich eine Zigarette an.
    Sie hatten Feuer gemacht. Karl saß nah an den Flammen und spürte, wie seine Oberlippe austrocknete. Er hatte Hunger. Er machte Grams keine Vorwürfe. Es war kurz vor sieben Uhr an seinem ersten Silvester, das er nicht mit den Eltern verbrachte – davon wusste Grams nichts; Karl hatte feiern wollen, einmal nicht der stumme Depp sein, mit einem Mädchen sprechen und lachen, wie er mit Grams sprechen konnte und lachen. Er hatte während der Weihnachtsfeiertage vor dem Einschlafen und auch tagsüber immer wieder das Bild von sich im Kopf gehabt auf einer Party – der Raum getaucht in ein orangerotes Licht –, und er war genau richtig betrunken, und dieses Mädchen, das Jenny hieß oder Jessi oder Marie und aus Stuttgart, Köln oder Hamburg oder besser Berlin zu Besuch war, interessierte sich für ihn. Sie hatten einander ein frohes neues Jahr gewünscht, sich dabei berührt zum ersten Mal und im Morgengrauen geküsst, als alle anderen besoffen in den Ecken lagen.
    Karls durchnässte Schuhe dampften, hielt er sie nahe genug ans Feuer. Grams reichte ihm eine Filterzigarette und die Flasche Apfelbrand, die er gerade geöffnet hatte. Der Jägermeister war in den Schnee eingebuddelt – zum Anstoßen später um zwölf. Karl wusste nicht, wie spät es war. Die Hitze, das Knacken der Holzscheite; als die Funken stoben und die Schatten zitterten und Karl in der Glut ein Gesicht erscheinen sah und wieder verschwinden, das ihn stumm betrachtete, und er sich,

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