Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wo wir uns finden

Wo wir uns finden

Titel: Wo wir uns finden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Findeis
Vom Netzwerk:
Unannehmlichkeiten.« Er warf den Metallfladen durch den Raum und brannte sich die nächste Zigarette an. Vor dem Fenster begann es zu dämmern. Karl fragte sich, wo Grams war. Er hatte Angst. Er konnte jetzt nicht schlafen gehen. Er war nicht schwul.
    Am Abend hatte er die Weißwandreifen an Dix’ Wagen aufgeschlitzt. Grams war bei Anna und Dix eingeladen, sie hatte Königsberger Klopse kochen wollen, ein Rezept ihrer Mutter. Die Straße hatte im Dunkeln gelegen, matt das Licht hinter dem Wohnzimmerfenster. Mit dem Küchenmesser, das seine Mutter zum Gemüseschälen benutzte, hatte er mehr Kraft aufbringen müssen als mit Grams’ Stiletto. Er hatte sich langsam entfernt, ein Blick zurück über die Schulter: der Wagen, der mit den Spoilern fast auf dem Boden aufsaß, wie ein verwundetes Tier, das sich auf die Erde kauert.
    In der Nacht lag Karl im Bett, stellte irgendwann den alten Heizlüfter aus, den Grams ihm geschenkt hatte – keiner in der Familie hatte sich erinnert, wofür er angeschafft worden war –, und in der plötzlichen Stille des Kellers kam ihm ein Gedanke ans Weggehen, ohne Ziel, ein ortloses Abenteuer, ein Gefühl wie ein Sturz. Dass so was möglich sei, dachte er zum ersten Mal, dann schlief er ein mit Bildern von fernen Gegenden im Kopf, in denen er nicht fremd war. Er behielt das Gefühl nach dem Aufwachen, es fühlte sich echt an, die Wohnung, seine Eltern, sein Bruder wirkten dagegen durchscheinend, als existierten sie nur noch für eine kurze Zeit; als gäbe es die Gebäude und Straßen auf seinem Schulweg morgen nicht mehr, als säße er zum letzten Mal im Unterricht. Er überlegte, was der Grund sein könnte, dass Grams ihm nicht dankte für die aufgeschlitzten Reifen, während er immer weniger von dem verstand, was in der Klasse besprochen wurde. Zweimal wurde er aufgerufen und konnte die Antwort nicht geben.
    Er roch den Schwarzen Krauser bereits im Treppenhaus. Er hatte Grams einen Schlüssel zu seinem Keller gegeben im Suff irgendwann. Er hatte es nie bereut, bereute es auch jetzt nicht, wie er ihn im Sessel sitzen sah. Grams las in einem Magazin und sah nur kurz auf, als Karl eintrat. Die Matratze lag nicht richtig auf dem Rost. Er setzte sich aufs Bett und wusste nicht, was tun, betrachtete die Staubschicht auf allem, die Poster an den Wänden, seine Kleider über dem Stuhl. Fast wäre er vom Bett aufgestanden und gegangen, dann drehte er sich eine Zigarette und brannte sie an.
    Warst du das mit den Reifen? fragte Grams, ohne von dem Magazin aufzusehen.
    Was mit welchen Reifen? sagte Karl.
    Mach das nicht mehr, bitte, sagte Grams und hob den Kopf.
    Ich hab nichts gemacht, sagte Karl.
    Du hast dem Dix wieder die Reifen aufgeschlitzt, sagte Grams: Anna verträgt so eine Aufregung nicht in ihrem Zustand.
    Ich hab keine Reifen aufgeschlitzt, sagte Karl und spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss: wirklich nicht!
    Er senkte den Kopf und sah auf seine Hände.
    Warst du’s wirklich nicht? fragte Grams.
    Nein, sagte Karl, biss einen Fetzen Nagelhaut von seinem Zeigefinger ab und spuckte ihn aus: soll ich was machen? fragte er.
    Was willst du denn machen? fragte Grams.
    Was du willst, sagte Karl.
    Grams kniff die Augen zusammen und betrachtete ihn, als würde er geblendet. Karl stellte den Heizlüfter an, sein Rauschen füllte die Stille im Raum. Grams nahm vier Kassetten aus seiner Tasche und warf sie aufs Bett: Hab ich dir überspielt, sagte er.
    Danke, sagte Karl und betrachtete die Druckbuchstaben, mit denen Grams die Kassetten beschriftet hatte.
    War schon gut, sagte Grams: wie sich der Dix aufgeregt hat – nur musste ich ihm dann helfen beim Reifenwechseln.
    Pech, sagte Karl, und Grams lachte: Komm mit, sagte er: wir gehen Anna besuchen.
    Sie empfing sie mit einem Lächeln. Sie war blass, ihr rechtes Auge war entzündet, Eiter verklebte die Wimpern. Wenn sie blinzelte, öffnete es sich ein wenig später als das andere, als sei die eine Gesichtshälfte um den Bruchteil einer Sekunde zeitversetzt. Sie trug eine Latzhose, darunter ein weit aufgeknöpftes Hemd, das Dix gehörte. Am Ansatz ihrer Brüste waren rötliche Pickel, ein Ausschlag, an dem sie gerade gekratzt haben musste, weiß hob sich der Schorf ab.
    Bedient euch, sagte sie, zeigte zur Küche und legte sich auf das Sofa im Wohnzimmer. Grams steckte die Wolldecke unter ihrem Kinn fest wie bei einem kranken Kind, sie lächelte. Das Haus war dunkel und roch nach Baustelle. Leitungen lagen offen, wo die alte schwarze und

Weitere Kostenlose Bücher