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Wölfe der Nacht

Wölfe der Nacht

Titel: Wölfe der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benjamin Percy
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auf«, zuerst leise, dann lauter: »Hör auf, ihn zu schlagen. Du tust ihm weh!« Justin weiß nicht so recht, wen Graham meint, aber seine Stimme ist kräftig genug, um sie zu trennen. Auf diese Art gewinnt oder verliert keiner. Sie hören einfach auf – leer, irgendwie befriedigt – und kriechen keuchend und blutend voneinander weg.
    Inmitten des Schmerzes ist da ein Gefühl der Leere. Als wäre ein großes Zimmer in Justins Innern, das früher vollgestellt war mit kantigen Möbeln, plötzlich leer geräumt worden – mit einem Gefühl der Erleichterung. Jetzt schauen sie einander mit grollendem Verständnis an, und dann Graham, der mit verschränkten Armen, die Hände an den Ellbogen, dasteht. »Hört einfach auf«, sagt er.
    Justin drückt den Daumen an ein Nasenloch und bläst und eine dicke Blutschliere löst sich und fällt ihm auf den Oberschenkel. Er versucht, sie wegzuwischen, aber das Blut verschmiert sich auf dem Jeansstoff, so dass es aussieht, als hätte er auch dort eine Wunde. »Und?«, sagt Justin. »Sind wir jetzt zu einer Entscheidung gekommen?«
    »Sag du ’ s mir.« Sein Vater beugt sich vor, um auszuspucken, und wischt sich dann mit dem Unterarm den Mund.
    »Du kennst die Antwort bereits.«
    Sie gehen in die Richtung, in der Boo verschwunden ist, auf eine unbekannte Gefahr zu. Justin versucht, im Geiste ein Bild von Karen heraufzubeschwören, die Hände in der Taille, die Lippen in grimmiger Missbilligung gekräuselt – aber das Bild wabert an den Rändern und löst sich dann auf, als wäre ein Teil seines Hirns ausgestöpselt worden, der Teil, dem früher eine Verkaufsaktion bei Target wichtig war oder dass unter den Möbeln gesaugt wurde.
    Die Gewehre über dem Kopf waten sie durch den South Fork, und Graham klammert sich an Justins Rücken. Im tiefsten Teil des Flusses, wo es am kältesten ist, reicht Justin das Wasser bis zum Bauch und droht, seinen Sohn mitzureißen. Justin sagt ihm, er solle sich ja gut festhalten. Seine Arme liegen um Justins Hals und schnüren ihn ein wie ein zu eng sitzender Rucksack. Jeder Schritt ist eine rutschende Ungewissheit. Unter Wasser tapsen seine Stiefel langsam und blind. Die Steine sind rutschig und uneben, und hin und wieder scheinen sie seine Stiefel zu umklammern wie Zähne, die nur loslassen, wenn Justin den Stiefel hochreißt und versucht, einen anderen Halt zu finden, obwohl die Strömung seinen Fuß flussabwärts reißt. Das Wasser drängt sich gegen seinen Körper, bildet einen weißen Kragen um seinen Bauch, und seine Kraft ist enorm, so dass er den Körper dagegenstemmen und das andere Ufer in diagonaler Richtung angehen muss. Nur ein ungeschickter Tritt auf einen mit Algen bewachsenen Stein, und sie werden zum Opfer des Flusses, werden von einer eisigen Sturzflut flussabwärts gerissen.
    Die Fäuste seines Vaters haben einen Schmerz hinterlassen, der gegen seinen Schädel pocht, doch im Augenblick versucht Justin, ihn zu ignorieren. Er versucht, sich mit jeder Faser seines Hirns aufs Vorwärtskommen zu konzentrieren, einen sicheren Tritt zu finden und einen Schritt nach dem anderen zu machen. Sein Vater erreicht das andere Ufer einige Minuten vor ihm, und nutzt diese Zeit, um mit gerunzelter Stirn und konzentriertem Gesicht zwischen Justin und dem Wald hin und her zu schauen. Er ruft ihnen Ermutigungen zu, als sie sich dem Ufer nähern, das vermutet Justin zumindest, denn er sieht seine Lippen sich bewegen und die Arme winken, seine Worte allerdings werden übertönt vom Brausen der Stromschnellen und Grahams nervösem Keuchen in seinem Ohr.
    Als sie dann drüben sind – als er einen Fuß aus dem Wasser zieht und auf das schlammige Ufer stellt –, versucht er sofort, Graham abzuschütteln, doch der scheint erst nicht loslassen zu wollen und so kippen sie beide beinahe um. »Runter«, sagt Justin zu ihm, nicht unfreundlich – und erst jetzt lässt der Junge ihn los. Justin atmet schwer und geht ein paar schwankende Schritte vom Schlamm auf eine Kiesbank, wo er eher zu Boden fällt als sich hinsetzt.
    Trotz der Kälte des Wassers ist ihm am ganzen Körper heiß. Seine Lunge brennt. Zwei lange Feuerfinger kriechen seinen Rü cken hoch und erinnern Justin an Grahams sperriges Gewicht. Vor allem seine Oberschenkel- und Wadenmuskeln fühlen sich warm und hölzern an, wie Scheite, die man in der Sonne hat liegen lassen. Er massiert sie kurz mit den Händen und hofft, dass er keinen Krampf bekommt. Ein Schatten fällt über ihn, er hebt den Kopf

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