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Wölfe der Nacht

Wölfe der Nacht

Titel: Wölfe der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benjamin Percy
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fletscht die Zähne und verschwindet so schnell wieder, wie er gekommen ist.
    Dreißig Jahre – und in dieser ganzen Zeit hat sich zwischen Justin und seinem Vater wenig verändert, obwohl um sie herum Oregon sich sehr verändert hat.

JUSTIN
    Seine Frau Karen arbeitet als Ernährungsberaterin für die verschiedenen Schulbezirke in Central Oregon. Sie verbringt ihre Tage damit, Mittagsangebote für die Cafeterias zu entwickeln, sich mit übergewichtigen Diabetikern zusammenzusetzen, um mit ihnen über ihre Essgewohnheiten zu sprechen, und Auditorien voller gelangweilter Kinder Power-Point-Präsentationen zu zeigen und ihnen von der Nährstoffpyramide zu erzählen, und wie sie sie in ihr Leben einbauen können. Zurzeit ist sie mit ihrem zweiten Kind schwanger. Jeden Morgen trinkt sie Orangensaft und tagsüber Gallonen Wasser, könnte man meinen, aber nie etwas mit Kohlensäure oder Alkohol, nicht einmal einen Schluck, den sie Justin abluchst. Sie hält sich fern von Fisch und rotem Fleisch und gibt nicht wenig Geld für biologische, freilaufende Hühnchen aus. Und so weiter. Jede Vorsichtsmaßnahme auf der Welt – und keine kann verhindern, was als Nächstes passiert.
    Als Justin von der Arbeit nach Hause kommt, findet er ein Muster aus blutigen Fußabdrücken auf dem Boden. Er starrt sie lange Zeit an, als wollte er ihre Botschaft entschlüsseln. Erst dann zieht er sein Handy heraus. Er hat es vor einiger Zeit ausgeschaltet, damit es im Unterricht nicht klingelt. Es zeigt ihm drei Nachrichten – eine vom Krankenhaus, die nächste von seinen Schwiegereltern, die letzte von seiner Frau.
    Er findet sie in ihrem Krankenhausbett, sie scheint ge schrumpft zu sein. Ihr Bauch ist hohl, plötzlich leer.
    Sie ist, sie war, im fünften Monat schwanger. Die Ärzte sagen ihr, sie habe Präeklampsie. Im Wesentlichen gehe es darum, dass ihr Körper das Baby plötzlich als einen Fremdkörper sah, den er abstieß. Als sie Justin das erzählt, die Stimme verwaschen vom Vicodin, scheint sie zugleich nach innen und nach außen zu blicken, verloren in dunklen Gedanken in einem zu hellen Zimmer.
    Als die Schwester kommt, um Karens Vitalfunktionen zu kontrollieren, fragt sie, ob Justin das Baby sehen will, ein kleines Mädchen. Er will und er will nicht. Als sein Sohn Graham geboren wurde, hatte er so glänzend ausgesehen, wie poliert von Karens Innerem, ein kostbares Juwel, das sie sich an die Brust drückten und einander mit größter Vorsicht reichten. So sieht dieses Baby auch aus, nur kleiner, blauer.
    In den folgenden Wochen geht Karen herum, als wäre sie wund. Sie weicht vor Justins Berührung zurück – noch die Seine, aber für ihn verloren. Er findet sie oft im Büro, dem Büro, das sie zum Babyzimmer umgestaltet hatten. Auf der einen Seite steht ein Sekretär mit Rollladenaufsatz, darauf Stapel noch nicht benoteter Klassenarbeiten – und auf der anderen das Kinderbettchen aus aufpoliertem Kiefernholz, ge schmückt mit Winnie-the-Pooh-Aufklebern und einem Mobile, das Twinkle Twinkle, Little Star spielt, das Lied, das jetzt so gespenstisch klingt, wenn Karen das Ding einschaltet, wie es das leere Bettchen füllt und durch seine Seitenlatten sickert, um durchs Haus zu hallen.
    Als sie wieder miteinander schlafen, fünf Monate später, fängt sie an zu weinen, und als er sie fragt, ob er aufhören soll, sagte sie: »Was meinst du denn?« Seitdem trennt eine Grenze die beiden Hälften ihres Betts. Keiner von beiden überquert sie.
    Er kann sich nicht erinnern, ob sie zuvor schon Probleme hatten. Er versucht sich zu erinnern, wann sie das letzte Mal miteinander ausgegangen waren – ein wirklicher Abend zu zweit, ohne ihren Sohn, weißes Leinen, brennende Kerzen, Wein in Kelchgläsern, ihre Füße berühren sich unter dem Tisch – und kann es nicht. Er versucht sich zu erinnern, wann er ihr das letzte Mal Schmuck oder Blumen schenkte. Er versucht sich zu erinnern, wann sie ihn das letzte Mal in den Mund nahm. Er versucht sich zu erinnern, wann sie zum letzten Mal Romane auf der Couch lasen und sich, die Beine ineinander verschlungen, gegenseitig Lieblingspassagen vorlasen. Jahre her. Das ist Jahre her, nicht? So viele seiner Erinnerungen sind verschwommen, verstellt von Erinnerungen aus der Arbeit. Er kann sich an ihre häufigen Kopfschmerzen erinnern – ihre Seufzer aus tiefster Kehle –, an ihren Wunsch, allein zu sein. Er erinnert sich daran, wie er beim Einräumen der frischen Wäsche einen riesigen rosafarbenen Dildo

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