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Wölfe der Nacht

Wölfe der Nacht

Titel: Wölfe der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benjamin Percy
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bewegt. Sein Vater hält es Justin hin, nicht damit er es nimmt, sondern damit er es anschaut. Lange Zeit starren sie das Halsband an. Es ist zerfetzt und sein normales Rot ist dunkler gerötet vom Blut, das auf die Hände seines Vaters abfärbt.
    Nach einem langen, schweren Schweigen richtet er den Blick auf Justin, ohne ihn anzusehen, er sieht durch ihn hindurch. Seine Augen sind rot und feucht, vom Rauch oder vor Traurigkeit. Justin bemerkt einen kleinen weißen Fleck auf seinem Bart, der aussieht wie ein winziges Ei in einem Nest. »Mein Hund.« Seine Stimme ist belegt und wässerig. Er dreht und drückt das Halsband, als wollte er das Blut auswringen. Sein Gesicht überzieht sich mit Kummerfalten und eine Ader schlängelt sich über seine Stirn. Eine ganze Minute vergeht, bevor er sein Gewehr wieder aufhebt, den Finger um den Abzug legt und mit jetzt wilder, schneller Stimme sagt: »Ich werde …«
    Aber er weiß nicht, was er tun wird.
    Durch einen Nebel aus Schock und Wut und Angst und Verwirrung schaut er Justin an und fragt schließlich: »Was jetzt, Justin? Was tun wir jetzt?« Er spricht langsam, jede Silbe beansprucht Zeit und Raum.
    Bis zu diesem Punkt ist Justin sich auf diesem Wildwechsel klein und verletzlich vorgekommen, nur ein Stück Fleisch zwischen den schattigen Bäumen. Jetzt wird dieses Gefühl noch schlimmer. Sein Vater, der immer weiß, was zu tun ist, weiß nicht, was zu tun ist. Sein Sohn soll jetzt das Denken für ihn übernehmen, und Justin muss sich eingestehen, dass er eine gewisse Lähmung spürt, während er sich ausrechnet, wie viele Meilen sie noch gehen können, bevor die Sonne vom Himmel sinkt.
    »Du willst es nicht sagen«, sagt sein Vater, »aber du denkst es.«
    Ein angespanntes Schweigen folgt diesem Satz, durchbrochen von einem Ast, der irgendwo in einiger Entfernung knackt. Sie beide zucken zusammen.
    Als sein Vater schließlich wieder den Mund öffnet, klingt es wie eine Erwiderung. »Du denkst, dass wir sterben werden.« Er lächelt freudlos. »Das denkst du doch, oder?« Er lacht barsch auf.
    Justin schaut zuerst Graham an – der einige Schritte entfernt steht, mit fest zusammengekniffenen Augen, scheinbar taub für ihre Unterhaltung – und dann das Halsband. In seinem blutdurchtränkten Gewebe meint er den öligen Schein der Unwirklichkeit zu sehen, der schimmert wie der Spiegel schimmert, kurz bevor Alice hindurchtritt. Nichts scheint möglich und alles scheint möglich. Leben scheint möglich. Der Tod auch.
    Justin sagt: »Vielleicht bist du derjenige, der –«
    »Du täuschst dich, wenn du das denkst!« Er lacht wie jemand, der nie Gefühle zeigt, explosiv und zynisch, und Justin weiß deshalb, dass es von ganz tief drinnen kommt. Das Lachen geht weiter und weiter, bis es in einem Schluchzen endet.
    Justin hat ihn bei Beerdigungen gesehen, hat ihn nach einem Sturz von einem Hochsitz mit einem gebrochenen Bein gesehen, aber dies ist das erste Mal, dass er ihn weinen sieht. Ohne recht zu wissen, was er tut, legt er seinem Vater den Arm um die Schultern und drückt ihn an sich, und sein Vater ist völlig überwältigt.
    Ver stehen … Ver eint … Ver söhnt.
    Justin klopft ihm auf den Rücken. Es ist ein komisches Gefühl, seinen Vater zu trösten, so wie es komisch ist, an gestern zu denken – das so weit weg, so unwiederbringlich ist. »Ich werde sehr froh sein, wenn wir aus diesem Canyon draußen sind«, sagt Justin.
    Sein Vater löst sich von ihm und wischt sich die Augen mit den Innenseiten der Handgelenke. »Erzähl mir was Neues.« Er schenkt Justin kein Lächeln, aber in seiner Stimme schwingt ein gewisser erzwungener Humor mit.
    Ver nunft. Ver fahren. Ver binden.
    Graham hat noch immer die Augen geschlossen. Er kaut an seinem Daumennagel, zerrt gierig am schartigen Rand. Justin drückt ihm die Schulter. Der Junge reißt die Augen auf, sie zeigen Neugier und Angst.
    »Müssen wir sterben?«, fragt Graham. Er drückt sich die Finger knapp unter dem Brustbein auf den Bauch, was er anscheinend immer tut, kurz bevor er weint.
    »Müssen wir nicht«, sagt sein Großvater, doch seine Miene ist düster.
    »Okay«, sagt Justin. »Gehen wir.«
    Sein Vater bleibt wie angewurzelt in seinem Schatten stehen. »Wir werden nicht sterben, weil wir diesen Bären töten werden. Wir werden ihn finden und wir werden ihn totschießen.« Er atmet einmal tief und bebend ein, wie um sich gegen alles zu wappnen, was ihm noch bevorsteht. »Komm, Graham.« Er geht ein paar Schritte

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