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Wölfe der Nacht

Wölfe der Nacht

Titel: Wölfe der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benjamin Percy
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und sieht Graham ihn mit trauriger Miene anschauen, die Augen weit und feucht. »Tut mir leid.«
    »Schon okay«, sagt Justin, noch immer schwer atmend. Die Gischt des Flusses hat seine Haare befeuchtet, er fährt mit den Fingern hindurch und schaut zu seinem Vater. Vor langer Zeit stürzte ein Baum aus dem Wald und jetzt liegt sein faulender Stamm quer auf dem Ufer. Sein Vater hat einen Fuß darauf gestützt und den anderen auf dem Boden, als sei er bereits unterwegs in den Wald und habe nur kurz innegehalten, um nachzusehen, ob sie ihm folgen. »Und?«, sagt er.
    »Gib mir nur eine Minute.«
    Er schaut auf seine Uhr und sagt: »Eine Minute.«
    Justin starrt den Fluss an, dessen graues Wasser weiß aufschäumt, und denkt an seine unendliche Kraft, gegen die er sich so jämmerlich wehrte. In seinem Tosen hört er sonst kaum etwas, bis auf das entfernte Tock-tock eines Spechts, wie eine Uhr, die das Näherrücken einer gefahrvollen Begegnung verkündet.
    Als seine Atmung sich endlich wieder beruhigt hat, ist sein Vater ohne ein Wort bereits in den Wald gegangen. Justin steht auf, um ihm zu folgen, und stützt sich zuerst auf Graham, um seine Beine zu schütteln und kreisende Bewegungen mit den Hüften zu machen, um insgesamt die Muskeln zu lockern. Seine Stiefel glucksen und die Jeans kleben unangenehm an ihm, und als er den Wald betritt, verschwindet das Licht, als hätte plötzlich Dämmerung eingesetzt. Überall sind Abdrücke zu sehen – als hätten alle Tiere des Waldes beschlossen, ausgerechnet hier das Graffiti ihrer Wanderungen in die Erde zu zeichnen –, vorwiegend die gegabelten Abdrücke von Hufen, vermischt mit den langen, dünnen und entfernt menschlichen Spuren von Waschbären und Opossums, und sie alle verschmelzen miteinander. Tief gebückt bahnen sie sich einen Weg durch das dichte Unterholz und versuchen, in dieser geisterhaften Prozession der Tiere das Muster einer Hundepfote zu entdecken. »Hier«, schreit Graham und winkt sie zu sich und deutet auf einen Abdruck wie eine schuppige Birne, aus der Dornen wachsen. Er befindet sich in einer Sandkuhle, umgeben von einer kahlen Fläche Lavagestein, deshalb brauchen sie einige Minuten, bis sie einen anderen Abdruck gefunden haben, und dann noch einen, eine ganze Reihe von ihnen, die schließlich die Richtung anzeigen, in die der Hund gelaufen ist. Die Spuren wandern durch den Wald, um Stümpfe herum und über Stämme und durch Hasenpinselgestrüpp, aber sie zeigen eindeutig in nördliche Richtung. Schließlich öffnet das Gestrüpp sich zu einem schmalen Wildwechsel, und die Spuren führen darauf weiter, im festgetretenen Boden jetzt allerdings weniger deutlich sichtbar.
    Justins Vater geht an der Spitze und er selbst bildet den Abschluss, so dass Graham zwischen ihnen geschützt ist. Wortlos gehen sie weiter, studieren den Boden und den Wald. Vögel umflattern sie, kreischend und neugierig, ansonsten aber sehen sie kein lebendiges Wesen auf ihrem Marsch, einer langsam sich bewegenden Prozession aus müden Gelenken und angsterfüllten Herzen, die Boos Spuren folgt, so gut es eben geht.
    Justins Blick wandert auf dem Pfad hin und her, wie man es tut, wenn man auf einer schmalen Straße fährt und sich sorgt, dass etwas herausspringen und die Fahrt behindern könnte. Er fühlt sich verlassen, verdammt. Er überlegt sich andere Wörter, die mit ver- beginnen.
    Ver geben.
    Ver lieben.
    Was bedeutet diese Vorsilbe überhaupt? Er weiß es nicht. An seinen Beispielen merkt er, dass man ihr nicht einmal eine eindeutig positive oder negative Bedeutung zuweisen kann. Er vermutet, dass es irgendetwas mit dem Verlauf einer Entwicklung zu tun hat. Als Lehrer sollte er solche Sachen eigentlich wissen. Es gibt immer mal wieder irgendeinen Klugscheißer in der Klasse, der ihn herausfordert und wartet, dass er einen Fehler macht, und auf so etwas sollte er vorbereitet sein.
    Ver fahren.
    Ver antwortung.
    Beim letzten Beispiel trifft nicht einmal die Sache mit der Entwicklung zu.
    Er hört ein plötzliches Dröhnen und zuckt zusammen, bevor er nach oben sieht. Dort zieht, in einem Stück blauen Himmels, ein Jet einen langen weißen Kondensstreifen hinter sich her. Er stellt sich vor, in dem Jet zu sitzen, zwischen anderen Passagieren, die Zeitschriften lesen und Brezeln aus kleinen Tütchen essen, alle unterwegs zu einem zivilisierten Ort, einem sicheren Ort, geschützt von Zäunen und von hellen Lichtern beleuchtet.
    Einen Augenblick schließt er die Augen und es

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