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Wölfe der Nacht

Wölfe der Nacht

Titel: Wölfe der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benjamin Percy
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Schrotflinte hervorholt, von der er weiß, dass sie dort ist. Stattdessen hat Seth eine Papiertüte in der Hand. Mit einem Schlenker des Handgelenks öffnet er sie und füllt den klaffenden Mund mit den Einkäufen. »Was wollt ihr hier draußen eigentlich?«
    »Sind unterwegs zum Echo Canyon.«
    »Jagen? Fischen?« Er spricht die Verben sehr knapp aus, verschleift die Endungen.
    »Bisschen was von beidem.«
    »Aber ihr wisst schon, dass sie den abholzen, den Canyon abholzen, ab kommenden Montag?«
    »Ja.« Justin macht eine Geste mit dem Daumen, deutet auf die Stelle, wo eben noch sein Vater gestanden hat. »Na ja, genau genommen gehört mein Alter zur Mannschaft. Seine Firma, diese Holzhaus-Baufirma, sie –«
    »Im Ernst, er gehört zur Mannschaft?« Alle seine Muskeln scheinen sich anzuspannen und er beugt sich über die Theke, kommt Justin so nahe, dass er seinen Atem spürt, ihn beinahe schmecken kann, aromatisiert von den Geistern Hunderter Zigaretten. »Ist ja klasse. Einfach wunderbar. Sagen Sie ihm danke dafür, dass er auf meine Türschwelle pisst, okay?«
    Nach einem Augenblick verblüfften Schweigens sagt Justin: »Ich verstehe nicht.«
    »Natürlich nicht. Sie sind ja aus Bend.« Er betont den Namen so stark, als wollte er ihn zermalmen.
    Justin versteht und auch wieder nicht. Er verdreht auch nur die Augen, wenn er an diese ganzen Neubaugebiete denkt, an die Supermärkte, die wie Pilze aus dem Boden schießen, wenn er daran denkt, dass es hier bald mehr Kalifornier als Oregoner gibt, dass Mapquest mit der hektischen Entwicklung nicht mitkommt, zugleich aber mag er GAP und Starbucks, mag es, wegen Sachen, die er braucht, nicht nach Portland fahren zu müssen. Er weiß, er sollte jetzt nichts mehr sagen, sollte seine Einkäufe nehmen und gehen, aber sein Mund plappert bereits eine Frage. »Ich meine, sind Sie in gewisser Weise nicht froh?«
    Das Wort scheint ihn anzuwidern. »Froh?« Er spuckt es aus.
    »Sie bekommen mehr Geschäft. Die Leute werden an den Zapfsäulen Schlange stehen. Es bringt ihnen doch nur Gutes.« Noch während Justin spricht, verengen sich Seth ’ Augen zu Schlitzen, und Justin fühlt sich plötzlich sehr klein, so dass sein letzter Satz fast nur noch ein Wimmern ist. Aus Seth ’ Gesicht blitzt nackter Hass. So etwas hat Justin schon sehr lange nicht mehr erlebt, und es wirft ihn einige Schritte zurück, als hätte dieses Gefühl eine körperliche Kraft.
    Aus dem Fernseher dringt der Lärm einer Schießerei. Rauch steigt hoch, und als er sich teilt, sieht man mehrere Indianer verstreut im Sand liegen. Justins Blick wandert zum Fernseher, Seth ’ aber nicht. Sein Blick bleibt auf Justin fixiert. »Nur Gutes«, wiederholt er, als versuche er, den Satz zu begreifen.
    Falls Justin seinem Vater von Seth erzählt, wird der auf zwei Arten gleichzeitig reagieren. Er wird die Geschichte als unwesentlich abtun – »Dann mag er dich eben nicht. Na und? Wolltest du ihn zu deinem Abschlussball einladen?« – und zugleich wird er sich versteifen, an den Widerwillen denken, den er vor mehr als einem Jahr in seinem Hinterhof empfunden hatte, als er Pfeil um Pfeil in einen Rehbock aus Polyurethan jagte und sich fragte, ob er sich selbst und diesen Ort verrate. Justin sagt deshalb nichts, obwohl ihn dieser Wortwechsel belastet, als sie von der Tankstelle wieder auf die Straße biegen und über einen kurvenreichen Bergpass weiterfahren.
    Um eine Kurve kommt ein Chevy Malibu, ein winziges Auto mit einem großen Hirsch auf dem Dach. Die Scheibenwischer laufen und wischen das Blut weg, das über die Windschutzscheibe läuft. Die Fahrzeuge fahren so langsam aneinander vorbei, als würden sie sich auf einem Fluss begegnen. Justins Vater grüßt mit der altbekannten Geste – die Finger kurz vom Lenkrad heben –, und sie erwidern den Gruß.
    Der Highway gabelt sich und sie nehmen die nordöstliche Abzweigung. Dort gibt es eine Schranke, die im Winter den Eingang zu den tief verschneiten Straßen versperrt. Jetzt ist sie geöffnet, klafft wie ein Mund. Als sie hindurchfahren, macht sein Vater ein Geräusch und dreht sich im Sitz, um etwas zu beobachten.
    »Was ist?«, fragt Justin und legt die Hand aufs Steuerrad, um das Auto gerade zu halten, während die Augen seines Vaters auf die Welt hinter ihnen gerichtet sind. »Was hast du gesehen?«
    »Ich habe – ich habe einen Wolf gesehen, ich schwöre es, obwohl es eigentlich gar nicht möglich ist.« Er nimmt das Lenkrad mit einer Hand und fährt sich mit

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