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Wölfe der Nacht

Wölfe der Nacht

Titel: Wölfe der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benjamin Percy
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der anderen durch den Bart und sagt schließlich: »Muss ein Kojote gewesen sein.« Er spricht das Wort aus wie viele seiner Schüler es tun, als wären es zwei Wörter Ko – Jote.
    Justin schaut ebenfalls zurück, sieht aber nur Wald, ein hölzernes Gewirr aus Schatten und Licht. Am Straßenrand sieht man Erdbeeren und grüne Waldclintonien und kleine Schneeflecken und mit derben graugrünen Flechten bewachsene Felsbrocken, die aussehen wie über einen Kellerboden gerollt. Sie kommen an einem alten Holzfällerlager vorbei, die Hütten eingestürzt, die Gerätschaften verrostet und vergessen. Hin und wieder lichten sich die Bäume und geben den Blick frei auf ein schmales Tal mit einem Fluss, der es durchfließt oder einem dünnen Wasserfall, der still über eine Basaltwand tröpfelt. »Siehst du das?«, fragt Justin über die Schulter, und als sein Sohn nicht reagiert, dreht er sich um und sieht ihn ein Buch lesen – Flora und Fauna des Pazifischen Nord westens –, ein widerstandsfähiges Softcover mit Plastikein band und glatten Seiten, von denen der Regen abläuft. Justin hat es im Gander Mountain gekauft, ein Impulskauf, als er in der Kassenschlange stand. Die Seiten sind angefüllt mit Fotos und Illustrationen und Beschreibungen von allem, vom Schwert farn bis zu Bergziegen. Justin spürt eine leichte Verärgerung – da sein Sohn die Schönheit um ihn herum ignoriert –, aber er verkneift sich eine Zurechtweisung, weil er weiß, dass er in seiner Stimme die seines Vaters hören würde.
    »Graham«, sagt er laut, mit nach Aufmerksamkeit heischender Stimme.
    Er hebt den Kopf aus dem Buch, sein Gesicht ist blass und überrascht. »Ja.«
    Justin nickt zum Fenster. »Was hältst du von der Welt da draußen?«
    Einen Augenblick schaut Graham in den Wald hinaus und antwortet dann: »Es ist hübsch.« Wie um das zu bestätigen, hebt er seine Kamera und lässt sie klicken und sirren und fängt so die Welt, die an ihnen vorbeizieht, als grünen Schleier ein.
    Der Asphalt geht über in Schlackekies, tief gefurcht an Stellen, wo über viele Jahre hinweg der Schnee schmolz und nicht abfloss.
    Auf dem Scheitel des Passes kommen sie an einem Schaufellader und einem Bagger und ein paar Traktoren vorbei, und sein Vater bremst und dreht sich nach ihnen um, als würde er eine Unfallstelle betrachten. Er öffnet den Mund, um etwas zu sagen, aber dann kippt die Straße um fast vierzig Grad, und er konzentriert sich wieder aufs Lenken. Er schaltet herunter. Der Motor stottert kurz, bevor der Gang einrastet. Er tippt leicht auf die Bremse und verstellt den Rückspiegel und schaut hinein.
    »Weißt du, einen Wolf zu sehen, bringt Glück«, sagt er. »Oder ist es Pech?«

BRIAN
    Auf zwei hölzerne Bügel hat er das Haarkostüm gehängt, eine verklumpte Masse aus Schlamm, Trespenhalmen und Kiefernnadeln. Jetzt am Morgen erfüllt der Geruch das Zimmer, eine stechende Mischung aus Farbverdünner und feuchtem Hund, die in den Schwamm seiner Haut eingedrungen ist, so dass auch nach dem Duschen, nachdem er die Haare gewaschen und die Achselhöhlen eingeseift hat, der Geruch noch an ihm hängt, ihn an sie erinnert und ihm hilft, sich zu konzentrieren, als gleich am Morgen drei Kunden anrufen. »Tut mir leid«, sagt er jedes Mal. »Im Augenblick geht’s hier wahnsinnig zu. Zu viele Schlösser zu öffnen.« Er nennt ihnen den Namen eines Konkurrenten und wünscht ihnen Glück.
    Er löffelt sich durch eine Schüssel Haferschleim und trinkt eine halbe Kanne Kaffee, bevor er ins Zimmer seines Vaters geht. Das Bett ist ordentlich gemacht, obenauf liegt die Steppdecke mit Enten-und-Rohrkolbenmuster. Der grüne Teppichboden ist gesaugt. Seine Kleidung – Jeans, Flanellhemden und widerstandsfähige Goldtoe-Socken – liegt ordentlich zusammengefaltet in den Schubladen der Eichenkommode, die sein Vater in der Garage geschreinert hatte. Der Spiegel darüber zeigt Brian, wie er zum Nachtkästchen geht und den Uhrenwecker zur Hand nimmt. Vorgestern, während des Sturms, gab es einen kurzen Stromausfall, und die Anzeige blinkt rot eine sinnlose Ziffernfolge. Er schaut auf seine Uhr, stellt den Wecker auf 7:36 ein und bläst den Staub von dem Gerät – ein gelber Hauch, wie ein Zauberpulver, das man in die Luft bläst, um die Toten heraufzubeschwören. »Ich habe jemanden kennengelernt«, sagt er zum Wecker. Irgendwo im Inneren des Gehäuses summt elektrisch das Drahtgewirr seines Hirns.
    Um acht fährt er über die OB Riley. Die Straße

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