Wölfe der Nacht
schnitten, um Marshmallows zu rösten. Oder dort, im Wipfel eines Baums das verwobene Nest, das aussieht wie Stahlwolle, in das der Fischreiher Jahr um Jahr zurückkehrt.
Solange sie die Ochocos besuchen, schlagen sie ihr Lager im Echo Canyon auf, an der South Fork des John Day River. Abgesehen vom gelegentlichen Laster des Forest Service, der über einen nahen Waldweg holpert, haben sie kaum je einen Menschen gesehen, und sein Vater betrachtet diesen Platz als seinen eigenen.
Um die genaue Stelle wiederzufinden, hat er eine Kiefer mit seinem Beil markiert. »Haltet die Augen offen«, befiehlt er jetzt –, dann schreit er »Dort!« und deutet auf den Baum mit der von orangenem Harz verschorften Wunde. Sie holpern von der Straße und stellen das Auto unter dem Baum ab.
Justin steigt aus dem Bronco – gefolgt von Graham und dem Hund – und bleibt erst einmal stehen. Es ist die Luft. Das Atmen fühlt sich so gut an, schmeckt so gut. Sooft er auch hier ist, er kann sich nicht daran gewöhnen: Die Luft wirkt irgendwie älter als andere Luft, wie der Atem eines Steins aus einem eiszeitlichen Bach. Sie scheint Geräusche weiterzutra gen, schärfer klingen zu lassen. Ein Kiefernzapfen, der fällt. Das Rauschen eines Eulenflügels, wenn sie einen Ast verlässt. Der Wind, der in einem Spinnennetz seufzt. Ein Kojote, der an einem Knochen nagt.
Ein Hirsch. Justin kann sein Kommen schon aus weiter Ferne hören, wie er sich durchs Geäst schiebt. Und dann taucht er am Straßenrand auf und tritt vorsichtig auf den Kies. Sie alle drei rühren sich nicht, und der Bock sieht sie nicht. Er hat ein schweres, langes, nach hinten wachsendes Geweih, das eine Krone bildet. Seine Augen und die Schnauze sind schwarz und feucht. Auch aus dreißig Metern können sie das Spiel seiner Muskeln unter dem Fell sehen.
So stehen sie eine ganze Weile, doch dann hat sein Vater genug von der Traumversunkenheit und knallt die Fahrertür zu. Der Bock erschrickt über das Geräusch und macht unbeholfen ein paar Schritte zurück, bevor er wieder in den Wald zurücktrottet und von einem Sprung auf den anderen zwischen den Bäumen verschwindet, als wäre sein Geweih genau dafür geschaffen. Justin beobachtet seinen Vater, wie der den Hirsch beobachtet. Sein Ausdruck ist eine Mischung aus Neid und Hunger. Während er eine Kugel in sein Fell träumt, bewundert er seine Gestalt, sein Tempo.
Er kommt vorne um den Bronco herum zu ihnen. Nach Art der Väter aus Fernsehserien der Fünfziger legt er Graham die Hand auf den Kopf und verstrubbelt seine Haare. »Vielleicht treffen wir ihn ja morgen, was?«
Graham spielt den gehorsamen Enkel und lächelt, während er gleichzeitig versucht, die Haare mit den Fingern wieder zu kämmen.
Bevor sie sich in den Wald aufmachen, wirft Justin noch einen Blick zurück zum Bronco. Jeder, der vorbeifährt, wird ihn sehen und sie finden können, falls derjenige es will, etwas, das er früher vielleicht beruhigend fand. Aber nicht heute, dafür ist ihm Seth ’ hasserfülltes Gesicht noch zu stark im Gedächtnis.
Sie marschieren los, beladen mit Gewehren und Stangen und Zelten und Rucksäcken, und sein Vater nennt beiläufig den Namen jeder einzelnen Pflanze, die weißen Zwiebeln und die Schafgarbe und die wilde Möhre. Er kennt die Namen von allem. Als Justin noch ein Junge war, fragte sein Vater ihn regelmäßig aus. Das brachte Ordnung in eine Wildnis, die ansonsten wild wuchernd und undurchdringlich gewesen wäre. Jetzt hat Graham sein Buch und blättert hektisch in den Seiten, schlägt alles nach, was sein Großvater ihm erzählt.
Die Bäume lichten sich. Justin erwartet die weite Bärengraswiese, die bis zu dem Weidengürtel am Ufer des South Fork reicht, und daneben ihre alte Feuergrube, vielleicht mit ein wenig Grün, das aus der Asche wächst. Sie finden etwas völlig anderes.
In hundert Metern Entfernung, am hinteren Ende der Wiese, steht neben dem alten Waldweg ein Bagger mit einer Ladung dunkler Erde in der Schaufel. Direkt darunter klafft ein or dentlich ausgestochenes Loch. Daneben stehen zwei Grabmaschinen, ein Schaufellader und ein Bulldozer, und ihre breiten Metallschaufeln funkeln gefährlich in der Sonne, wie Säbel, die vor dem Angriff von den Soldaten gezogen werden. Neben den Maschinen steht ein leuchtend blaues Dixi-Klo. Das Gras der Wiese ist grell mit großen, hieroglyphischen Mustern besprüht, die ankündigen, was mit dem Canyon passieren wird.
Normalerweise würden sie sich nach rechts wenden,
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