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Wölfe der Nacht

Wölfe der Nacht

Titel: Wölfe der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benjamin Percy
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Schatten setzen, um aus einer Wasserflasche zu trinken oder eine Zigarette zu rauchen. Der Baum wird stattdessen gefällt sein, die Äste abgeschnitten. Der Stamm wird eingesammelt, auf einen Tieflader gepackt und mit Ketten erstickt, wird zu einer Sägemühle gefahren und zu Brettern zerteilt, die schließlich zu einem Teil von irgendjemandes Wohnzimmer oder Zaun oder Billard-Queue oder Waffenschrank oder vielleicht der Kommodenschublade werden, in der die Socken aufbewahrt werden. Und ist das nicht das wahre Geheimnis des Lebens: Von wem wird man letztendlich konsumiert? Oder was konsumiert man selber letztendlich?
    Justins Vater schaut sich um, als wäre der Canyon ihm plötzlich verdächtig, als könnte er ihn nie wieder richtig sehen. Es stört sie beide, dass sie den Canyon von jetzt an wohl als verschwommene Erinnerung werden sehen müssen, eine Erinnerung, die sie in einem Jahr werden neu organisieren müssen: Wo war diese Stelle, wo wir immer unser Lager hatten? Diese Flussbiegung, an der man die besten Forellen angeln konnte?
    »Scheiße«, sagt er.
    »Dad.«
    »Was ist?«
    Justin wirft Graham einen Blick zu. »Sprache.«
    Sein Vater tut es mit einer Handbewegung ab. »Ist doch nicht schlimm, ab und zu mal zu fluchen, solange einem der Mund nur vor den Mädchen sauber bleibt.«
    »Als ich aufwuchs, hast du mich nie fluchen lassen.«
    »Schau, was passiert ist.« Wieder verstrubbelt er Graham die Haare, und als Graham sie diesmal wieder zu ordnen versucht, packt sein Großvater seine Hand und schüttelt den Kopf, nein. »Diesem kleinen Kerl könnte ein bisschen was Derbes nicht schaden.«
    Vielleicht ist es der Baumeister in ihm, die Art, wie er die Schwäche von Sachen bestimmt, dass er Menschen anschaut, wie er Häuser anschaut und Wassereinbrüche oder unebene Böden bemerkt. Seine Erziehungsmethode hat es auf jeden Fall beeinflusst. Justin weiß noch gut, wie sein Vater ihn einmal in ein Schlachthaus mitnahm. Damals war er nur ein wenig älter als Graham. Er hatte ein Päckchen Hamburger auf der Küchenanrichte liegen gelassen, das daraufhin verdarb, und sein Vater sah ihren Ausflug als Heilmittel gegen eine solche Unachtsamkeit.
    Er erinnert sich noch gut an den Geruch des Schlachthauses – Tierschweiß und –scheiße vermischt mit dem mineralischen Geruch von Blut. Er erinnert sich an das Klappern von Hufen und Gerätschaften, an die schrillen Sterbensschreie – das alles hallte durch den riesigen Raum wie grausige Musik, gespielt von Akkordeons aus roten Lungen und Schlagzeugen aus Knochen.

BRIAN
    In den ersten Wochen nach seiner Rückkehr nach Central Oregon verbrachte Brian viel Zeit damit, Verbände zu wechseln und Salbe auf die Wunde aufzutragen, die beständig austrocknete und aufplatzte, so dass ihm Blut ins Auge tropfte und seine Sicht rot und, nach einem Blinzeln, wieder klar wurde.
    Jeden Tag stieg er in den Jeep, den er sich noch in der Highschool aus dritter Hand gekauft hatte, und fuhr herum, denn er brauchte die Geschwindigkeit, den Abstand zwischen sich und dem Rest der Welt. Er hatte die Fenster offen und ließ die Luft in die Kabine und in seine Kehle strömen, heiß und trocken, aromatisiert mit dem vertrauten Geschmack von Beifuß und Lärche. Die Welt schmeckte noch genauso, sah aber anders aus, die Plateaus und Kuppen aufgestapelt wie Fleischfetzen, die Goldkiefern vernarbt mit Rinde von der Farbe getrockneten Bluts. Der Verband, der seinen Schädel zusammenhielt, flatterte im Wind und löste sich einmal ganz ab, wurde vom Wind durchs Fenster und in den Tag gesaugt, wo er in einem Hasenpinselbusch hängen blieb und Junikäfer und Feuerameisen und Schmeißfliegen die rote Feuchtigkeit saugten, die sich darin gesammelt hatte.
    In dieser Zeit war es schwierig, Lebensmittel einzukaufen und einen Burger zu bestellen und die Post aus dem Briefkasten zu holen oder einfach nur mit Leuten zu reden – übers Wetter, über Politik und den Benzinpreis, all diese Dinge, die ihm so irrelevant vorkamen. Ganz normal zu sein war schwierig, fast bestürzend. Er fühlte sich, wie er sich früher als Teenager nach einem langen Ski-Tag am Mount Bachelor gefühlt hatte, wenn er auf der Couch lümmelte oder im Bett lag, seine Oberschenkel sich anspannten und seine Knie sich beugten, weil sie noch das Auf und Ab der verschneiten Buckelpiste spürten. Sein Körper konnte nicht begreifen, dass das Leben sich bereits verlangsamt hatte, dass die weiß verhüllten Gestalten der Bäume nicht mehr

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