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Wölfe der Nacht

Wölfe der Nacht

Titel: Wölfe der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benjamin Percy
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sich die Hand am Oberschenkel ab und schaut seine Handfläche an.
    Inzwischen ist Graham wieder bei ihnen. »Wisst ihr eigentlich, dass Pollen nie verdirbt?« So redet er oft, listet Belanglosigkeiten auf, die er sich gemerkt hat, als er im Internet surfte oder in seinem Lexikon las. »Das ist eine der wenigen natürlich abgesonderten Substanzen, die unbegrenzt halten.«
    »Unbegrenzt!« Sein Großvater schnaubt, weil das Wort ihn amüsiert.
    »Weißt du, was das heißt?«, fragt Graham, nicht herablassend, sondern erpicht darauf, es zu erklären.
    »Habt ihr gewusst, dass gewisse Pflanzenarten Fleisch fressen können?«
    »Wo hast du denn dieses Zeug bloß her?«
    »Ich hab es gelesen.«
    »Wo?« Die Ansätze eines sarkastischen Grinsens wachsen unter dem Bart seines Großvaters. »Im Internet?« Er spricht das aus wie ein fremdländisches Gericht, von dem er einmal Verstopfung bekam.
    »Nein«, sagt Graham. »Auf der Rückseite einer Müsli-Packung.«
    »Oh.« Aus dem sarkastischen Grinsen wird ein Lächeln, und sein Großvater hebt die Arme und lässt sie wieder sinken, als gebe er sich geschlagen.
    Justin berührt das Zelt und zerreibt den gelben Blütenstaub zwischen Daumen und Zeigefinger. »Das ist lustig.«
    Sein Vater hebt die Augenbrauen und fragt: »Was?«
    »Dass so ein bisschen Staub diesen Ort hier überdauern kann. So wie wir ihn kennen wenigstens. Sogar unsere Erinnerung daran überdauern kann.«
    Sein Vater puhlt sich mit dem Daumennagel etwas zwischen den Zähnen heraus und betrachtet es mit funkelnder Intensität. »Weißt du was?«, sagt er. »Du redest wie ein Englischlehrer.«
    »Da das von dir kommt, muss ich wohl davon ausgehen, dass das nicht gut ist?«
    Er tritt gegen einen Stein und sieht ihn rollen und ein Stückchen weiter vorne liegen bleiben.
    Ihr Lager schlagen sie fünfzig Meter flussaufwärts auf. Obwohl sie davon ausgehen, dass das andere Zelt unbewohnt ist, bereitet es ihnen Unbehagen, und direkt daneben zu campieren ist für sie so, als würden sie nur wenige Meter vom faulenden Kadaver eines gestrandeten Wals picknicken.
    Während Boo am Ufer entlangplatscht und dem Silberblitzen der Fische nachjagt, hebt Justin eine neue Feuergrube aus. Sein Vater und Graham gehen noch einmal zum Bronco, um die Kühlbox und einen Kleidersack und Klappstühle und sein altes Armee-Leinwandzelt aus dem Bronco zu holen. Es ist undicht und riecht nach Mottenkugeln und Schimmel. Nach jeder Nacht, die Justin darin verbracht hat, ist er verquollen und schniefend aufgewacht.
    Letztes Weihnachten hat er ihm ein neues Zelt von REI gekauft – eins dieser supermodernen, wasserdichten, winddichten Vier-Mann-Dinger mit lebenslanger Garantie und eingebautem Mondfenster. »Was ist mit dem neuen Zelt passiert, das ich dir gekauft habe?«
    »Dieses Zelt war immer gut genug für uns.« Er klopft liebevoll auf das Tuch. »Ich mag dieses Zelt.« Er schaut Justin nicht an, sondern macht sich daran, die Leinwand auszubreiten und die Heringe zu setzen.
    Seine Stimme wird schrill, und er versucht, sie zu kontrollieren. »Das Zelt hat mich fast dreihundert Dollar gekostet, und du lässt es einfach auf dem Dachboden vergammeln?«
    Er schlägt ein letztes Mal mit dem Hammer auf einen Hering und richtet sich dann zu seinen vollen Einsachtzig auf. Unter seinem Starrblick kommt Justin sich vor, als würde er um mindestens zehn Zentimeter schrumpfen, als hätten seine Brustbehaarung und seine Muskeln sich zurückgebildet – und plötzlich wird er wieder zwölf Jahre alt.
    Mit einer Hand auf dem Bauch mustert sein Vater Justin von oben bis unten.
    » Hab um das Ding nicht gebeten. Und wollte es auch nicht.« Er fängt an, sich den Bauch zu reiben, als könnte er so den Geist seines Zorns beschwören. »Und wann kapierst du endlich, dass Qualität nicht immer ein Preisschild hat? Hör dir doch nur mal selber zu. Du bist so schlimm wie ein Kalifornier!«
    »Graham hat Allergien, weißt du. Ich hoffe nur, sie werden von dem Schimmel nicht ausgelöst.«
    »Graham hat Allergien.« Er zieht amüsiert die Nase hoch. »Ist doch eher so, dass du Allergien hast.«
    »Wir haben beide Allergien.«
    Paul schnieft noch einmal. Er hat noch nie an den tränenden Augen und der Kurzatmigkeit gelitten, die Herbst und Frühling mit sich bringen, deshalb betrachtet er allergische Symptome mit Argwohn, als wären sie nur dazu da, Mitleid zu heischen. Er drückt Graham den Hammer mit solcher Kraft in die Hand, dass er einen Schritt zurücktaumelt.

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