Wölfe der Nacht
vorbeirasten.
Das war der Grund, warum er fuhr und den Fuß aufs Gaspedal presste: um seine Geschwindigkeit beizubehalten. Dann starb sein Vater, was alles wieder verlangsamte.
Er fand seinen Vater in der Einfahrt, im Pick-up, mit noch laufendem Motor. Er war rückwärts gegen eine Lärche gestoßen und hatte so lange dort gestanden, dass der Auspuff die Rinde versengt hatte. Sein Körper lehnte schlaff an der Tür. Langsam ging Brian auf den Pick-up zu. Durchs Fenster sah er zuerst seine Haare, grau wie Zigarettenasche, dann die Leere in seinem Gesicht, und er wusste, dass er tot war. Sein Mund war offen, die Zunge hing heraus. Sein linkes Auge war ein winziger roter Planet. Ein Blutfaden hing ihm aus der Nase. Ein Aneurysma, sagte der Arzt.
Sein Vater hatte den Rückwärtsgang eingelegt und sich dann im Sitz umgedreht, damit er die lang gezogene Kurve der Einfahrt sehen konnte, und in seinem Hirn platzte ein Gefäß. Einfach so. Etwas, das er schon tausend Mal zuvor getan hatte – die ungefährlichste Sache auf der Welt –, hatte ihn getötet. Es war, als würde man Lungenkrebs bekommen, weil man Müsli in eine Schüssel schüttete oder erstickte, während man seine E-Mails durchsah: Es ergab keinen Sinn, es erschien nicht fair. Vor allem, wenn man daran dachte, was Brian überstanden hatte, zwar verbeult und verdorben, aber lebendig. Beim Begräbnis sagten viele, sein Vater sei bei Gott, was bedeutete, dass Gott der Tod war. Danach weinte er nicht. Er fühlte sich nur abgrundtief einsam und stolperte durchs Haus, schaute in Zimmer, drehte Türknäufe, um zu sehen, ob sie verschlossen waren.
JUSTIN
Als sie zum Fluss kommen, erstarrt Boo. »Siehst du das?«, fragt sein Vater und nickt zu dem Hund. »Er hat etwas gewittert. Vielleicht ein Schneehuhn oder ein Kragenhuhn.«
Boo steht etwa dreißig Meter entfernt, der Körper schwarz und steif wie ein Obsidian, die Schnauze auf etwas gerichtet, das sich am Wiesenrand versteckt, wo das Gras in Weidendickicht übergeht. »Aus!« Der Hund entspannt sich und wedelt mit dem Schwanz, wendet den Blick jedoch nicht ab.
Hier eine Weidengruppe, dahinter ihre Feuergrube. Daneben steht ein Zelt, ein braunes Kuppelzelt aus Vinyl, wie es sie in den späten Siebzigern zu kaufen gab. Der Reißverschluss am Eingang ist offen, die Klappen wirken klaffend und fleischig und zitternd, wie der Mund eines alten Mannes.
Das Zelt scheint leer zu sein, aber von drinnen ist ein Kratzen zu hören. »Hallo?«, sagt Justin und dann noch einmal, allerdings mit erhobener Stimme, damit er auch wirklich durch das Rauschen des Flusses zu hören ist. Das Kratzen hört auf.
Sie legen ihre Ausrüstung ab und nähern sich dem Zelt und ziehen die Klappen beiseite und spähen in das dämmerige Innere. Eine dunkle Gestalt stürzt auf sie zu und steigt kreischend in die Luft – eine Krähe, erkennt er, als sein Verstand den Schreck überwunden hat.
Der Hund bellt wild. Sein Sohn rennt ein paar Schritte davon, bevor er sich, die Hände schützend vor dem Gesicht, wieder umdreht. »O Gott!« Justin drückt sich die Hand ans Herz. Sein Vater starrt dem Vogel einfach nur nach – noch sichtbar, aber sich entfernend wie ein Aschewölkchen, das vom Wind davongetragen wird –, bevor er sich wieder zu dem Zelt umdreht.
»Sollen wir unser Zelt woanders aufschlagen?«, fragt Jus tin, als sein Herz sich wieder beruhigt hat. »Vielleicht campiert ja hier schon jemand?«
Einige Augenblicke starrt sein Vater das Zelt weiter an, dann legt er die Hand darauf, als würde er nach einem Puls tasten. »Nein«, sagt er. »Hier ist niemand.«
»Wie kannst du dir da so sicher sein?«
Er hebt seine Hand. Die Innenfläche ist voller Pollen.
»Warum sollte jemand sein Zelt so hinterlassen?«
»Sag’s du mir.«
In diesem Augenblick hört Justin die Stille. Es ist wie ein Fehler in einem Musikstück – es bringt ihn dazu, den Kopf schief zu legen und zu lauschen –, als würde ein Finger auf einer Gitarre abrutschen, so dass der falsche Ton viel auffälliger ist, als es der richtige wäre. Das stetige Zischen des Winds, das abwechselnde Vogelgezwitscher, das Rascheln der Eichhörnchen im Unterholz – das alles hat aufgehört. Man hört nur noch den Fluss, der im Hintergrund murmelt.
Dann steigt aus dem nahen Wald ein Schwarm Schwalben in den Himmel, als hätte etwas sie aufgeschreckt. Sie kreisen über ihnen und ihre Schatten sprenkeln die Wiese und ihr hektisches Zwitschern erfüllt die Luft.
Sein Vater wischt
Weitere Kostenlose Bücher