Wölfe der Nacht
»Ich habe eine Arbeit für dich. Schlag die restlichen Heringe ein.«
An den Ufern des South Fork stehen Weiden in dichten Gruppen. Die Welt will sich im Wasser spiegeln, kann es aber nicht. Die Wolken und die Bäume und die Sonne fallen auf die Oberfläche und verschwinden sofort wieder, werden weggespült von der weißen Gischt, wie es auch mit ihren Gesichtern passiert, als sie im Abstand von zwanzig Metern am felsigen Ufer stehen und ihre Spinnköder ins Wasser werfen. Sie müssen aufpassen, dass ihre Leinen sich nicht in den Ästen verfangen, wenn sie ihre Ruten mit kurzen, seitlichen Bewegungen aus dem Handgelenk herausschnellen lassen.
Justin sieht seinem Sohn zu. In seinem Gesicht bemerkt er eine gewisse Erregung, die er kennt. Wenn er früher den Wald betrat und einem Wildwechsel zum Fluss folgte, unter eine Sonne, die schräge Strahlenbündel durch die Bäume warf, in kühlen, nach Kiefern duftender Luft, mit der Angelrute in einer Hand und dem Ausrüstungskoffer in der anderen, träumte er von Forellen mit gesprenkelten Rücken und leuchtend weißen Bäuchen und spürte, wie sein Herz einen Satz machte vor Erregung.
Jetzt spürt er etwas Ähnliches. Der dunkle Wald. Die grüne Wiese. Die narbigen, unerklimmbaren Wände des Canyons, der sie umgibt. Er sieht das alles und merkt, dass er sich tatsächlich danach gesehnt hat. Es ist wie einen alten Song im Radio zu hören. Einen, den man geliebt, aber vergessen hat. Die Wiederentdeckung macht einen glücklich.
Er fragt sich, was seine Frau macht. Vielleicht Liegestützen auf dem Boden im Wohnzimmer, während sie sich eine DVD mit The Survivor ansieht. Er hat nicht mehr an sie gedacht seit der Abfahrt heute Morgen, als sie Graham fest an die Brust drückte und dann ihn so flüchtig in den Arm nahm, als wäre es ein Handschlag, und sagte: »Pass auf unseren Jungen auf!«
Zuvor hatten sie sich gestritten. Er weiß nicht mehr so recht, was der Grund war – irgendetwas Triviales –, vielleicht seine Unachtsamkeit mit der Schüssel, die er angeschlagen hatte, als er den Rest Milch ins Spülbecken kippte. Doch es dauerte nicht lange, und sie beide knallten mit Schranktüren, stöhnten laut und versuchten, einander mit scharfen Worten oder bösen Blicken zu treffen. Er erinnert sich, dass er »Darf ich vielleicht mal?« gesagt hat, als er sich mit der Kühltasche an ihr vorbeidrückte.
Er hatte nicht so wegfahren wollen – mit dem ungelösten Streit. Er weiß noch sehr gut, dass am Tag ihrer Hochzeit, als Freunde und Familie aus der Kirche geströmt waren, um sie zu umarmen und die Hände zu schütteln, seine Großmutter ihm zugeflüstert hatte: »Geht nie im Streit ins Bett. Das ist der beste Rat, den ich dir geben kann.« So hatte sich das Wegfahren heute Morgen angefühlt, als würden sie ins Bett gehen und einander den Rücken zukehren, und der Streit würde ihnen die Träume verderben. Er hatte sich überlegt, sie von unterwegs anzurufen, hatte sogar schon das Telefon in der Hand gehabt. Aber dann wurde ihm klar, dass sein Vater das Gespräch mitbekommen würde, und er steckte das Handy wieder in die Tasche. Er schämte sich, sie anzurufen, weil es etwas gab, wofür er sich schämen musste, eine Vorgeschichte: Wie die Situation auch sein mochte, auch wenn er sich völlig unschuldig fühlte, er entschuldigte sich immer, nur um die Sache zu beenden, um die Spannung zu lösen, die ihm nur Verwirrung und Kopfschmerzen bereitete.
Früher bereinigten sie so etwas mit Sex – nein, Ficken war das richtige Wort dafür. Mitten in einer Schreierei bekam einer von ihnen einen hungrigen Blick und schubste den anderen gegen eine Wand oder drückte ihn zu Boden, sie rissen einander die Kleider auf, um eine Brust zu entblößen und in einen Schenkel zu beißen, und ihr Küssen war eher wie Fressen. Nackte Haut wurde rot vom rauen Teppich oder den Fingernägeln des anderen. Und ihr Keuchen wurde zu Jaulen und das Jaulen zu Schreien, wie es besser nicht ging, und dann erschlafften sie, entleert, befriedigt, schwer atmend. Er vermisste diese Zeit.
Er wendet die Aufmerksamkeit wieder dem Fluss zu, aus dem er drei Regenbogenforellen zieht, jede so groß wie sein Unterarm. Als er in ihre schimmernden Augen schaut und ihnen den Haken aus dem Maul zieht, kann er sich gegen eine merkwürdige Freude nicht wehren, auch als ihm bewusst wird, dass er eben ein Lebewesen aus seinem Zuhause in eine kalte weiße Welt gerissen hat, von deren Existenz es bis zu dieser Sekunde noch gar
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