Wölfe und Kojoten
Tagesanbruch.«
»Und wenn Sie bis dahin nicht
aufgetaucht sind?«
Was für eine Frage. Ich schob die
einzig mögliche Antwort beiseite. »Bis heute nacht.«
Der Blick, mit dem mich Renshaw ansah,
sagte mir, daß er die richtige Antwort kannte. Aber auch er wollte sie
ignorieren.
»Und vergessen Sie nicht, unser Geld
mitzubringen«, fügte ich hinzu, nur um ihn zu reizen.
»Ich bringe es mit, obwohl mir klar
ist, daß Sie das hier nicht des Geldes wegen tun.«
»Nicht?«
»Nein. Genausowenig, wie Sie Ripinsky
des Geldes wegen nachgespürt haben oder um sich zu rächen. Sie halten mich
vielleicht für einen kaltherzigen Schweinehund, und größtenteils bin ich das
auch, aber ich kann mich noch dunkel daran erinnern, was es bedeutet, jemanden
so sehr zu lieben, daß man sein Leben für ihn riskiert.«
»Das tue ich nicht...«
»Vielleicht glauben Sie, daß Sie es
nicht tun. Aber Sie lieben ihn bestimmt.«
Verblüfft von seinem Eindringen in
meine ganz private Gefühlswelt, rückte ich vom Tisch zurück.
Renshaw hielt mich über den Tisch
hinweg am Arm fest. »Wie auch immer«, fuhr er fort, »für den äußerst unwahrscheinlichen
Fall, daß ich falsch liege, möchte ich Ihnen eines sagen: Ich würde viel darum
geben, zu erleben, was Sie für einen Menschen tun, auf den es Ihnen wirklich
ankommt.«
26
Nachdem ich den Toyota in der
Avis-Filiale im Zentrum abgegeben hatte, aß ich in Eile ein Sandwich, ging zur
Eight Street und erwischte noch eine Straßenbahn in südlicher Richtung. Der
leuchtend rote Wagen war voller Mexikaner, die mit einem Tagespaß über die
Grenze gekommen waren, als Touristen, zum Einkaufen oder zu Verwandtenbesuchen.
Einige starrten mich mit offener Neugier an — eine Amerikanerin ohne Begleitung
in mexikanischer Kleidung. Wenn ich zurückstarrte, sahen sie weg. Nach etwa
vierzig Minuten waren wir in San Ysidro angekommen. Zusammen mit den anderen
überquerte ich den Freeway auf der Fußgängerbrücke. Dann ging es die Rampe
hinunter und durch das Drehkreuz. Schließlich fand ich ein Taxi, das mich zu
der von Luis Abrego genannten Adresse in Colonia Libertad brachte.
Auf dem Weg durch die Seitenstraßen
ging mir durch den Kopf, daß Hy jetzt wieder im Hotel sein und inzwischen einen
anderen Wagen besorgt haben mußte — diesmal einen speziell ausgerüsteten. Seine
Sprachkenntnisse würde ich wohl nicht in Anspruch nehmen müssen, um mit dem
Kojoten handelseinig zu werden. Die meisten Bewohner dieser Grenzstadt sprachen
gut englisch, so wie die meisten Bewohner von San Diego genug Spanisch
mitbekommen hatten, um sich verständigen zu können. In den letzten
vierundzwanzig Stunden war mir zudem aufgefallen, daß mein Spanisch besser war
als vermutet. Der Kojote und ich würden schon miteinander klarkommen.
An der notierten Adresse fand ich eine
Karosseriewerkstatt vor, eingezwängt zwischen Reihen von bunten Hütten.
Inmitten ihrer üppigen blühenden Gärten wirkten die Hütten doppelt so schäbig.
An einem Imbißstand backte eine ältere Frau Tortillas auf einem Ofen aus einem
ausgedienten Ölfaß. Auf der Straße spielten zerlumpte Kinder Schlagball. Hühner
pickten und scharrten herum, und ein an einem Zaunpfahl festgebundener räudiger
Hund bellte unablässig. Eigentlich hatte der Taxifahrer nicht warten wollen,
doch er ließ sich umstimmen, als ich ihm fünf Dollar extra gab und weitere fünf
in Aussicht stellte.
Obwohl Sonntag war, hatte die Werkstatt
geöffnet. Ich betrat die dunkle, höhlenartige Garage, an deren einer Wand die
wohl größte Sammlung zerbeulter Radkappen der Welt hing. Es arbeitete niemand,
doch im Hintergrund des Raums saßen zwei Männer im Overall auf einer Bank und
rauchten. Marihuanageruch wehte mir entgegen.
Ich ging auf sie zu und fragte:
»Alfonso Mojas?«
Der größere von beiden — ein schlanker,
dunkler Mann mit Aknenarben auf den hohlen Wangen und fehlenden Schneidezähnen
— sah auf und sagte: »Wer fragt nach ihm?« Sein Englisch klang sehr
amerikanisch und hatte nur einen leichten Akzent.
»Luis Abrego schickt mich.«
Der Mann sprach leise ein paar
spanische Worte zu dem anderen. Der stand auf, nahm den Joint in die hohle Hand
und ging durch eine Seitentür hinaus.
»Ich bin Mojas«, sagte der Mann.
»Nennen Sie mich Al. Was möchten Sie?«
»Ich möchte Sie anheuern.«
»Wozu?«
»Ein paar Leute nach Norden schaffen.«
»Warum kommen sie nicht selbst her?«
»Ich gehöre auch dazu.«
Jetzt runzelte er die Stirn.
Weitere Kostenlose Bücher