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Wölfe und Kojoten

Wölfe und Kojoten

Titel: Wölfe und Kojoten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcia Muller
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dem la migra — so nannten sie die
US-Grenzpatrouille — in die andere Richtung sah. Dann brachen sie auf und
verschwanden in wilden Cañons mit Namen wie Toten- oder Schmugglerschlucht.
Dort erwarteten sie Klapperschlangen, Skorpione und nicht zuletzt Banditen.
    Von den Wegelagerern wurden sie einfach pollos — Hühner — genannt. Ich habe sie durch die Straßengräben an der
Monument und der Dairy Mart Road parallel zum San Diego Freeway rennen sehen.
Nun flohen sie nicht nur vor la migra und amerikanischen Banditen,
sondern, wie es hieß, auch vor kriminellen Polizisten aus Tijuana, die die
Grenze überquert hatten, um die eigenen Landsleute auszurauben. Die pollos kamen von überall her, aber drei Dinge hatten sie gemeinsam: Sie waren arm,
verzweifelt und hatten sehr große Angst.
    »Meine Mutter«, fuhr Gloria fort,
»wurde in der Schmugglerschlucht von Banditen angegriffen. Sie wurde nicht
vergewaltigt, aber das wenige Geld, das sie besaß, wurde ihr geraubt. Als
einziges war ihr die Adresse der konspirativen Wohnung in San Diego geblieben,
in der sie warten sollte, bis meine Tante sie abholen konnte. Zu Fuß
marschierte sie von der Grenze dorthin, im siebten Monat schwanger, mit meiner
Schwester auf dem Arm.«
    Das waren mindestens fünfzehn Meilen.
Ich versuchte, mir den Marsch vorzustellen, aber es gelang mir nicht.
    »Zwei Monate später kam ich in Salinas
zur Welt«, sagte Gloria, »in einer Wanderarbeiterhütte. Die Familie meiner
Tante half dort bei der Salaternte. Der Doktor war Latino und leistete
kostenlos Geburtshilfe. Meine Mutter schämte sich, seine Barmherzigkeit
annehmen zu müssen, aber sie wußte, er würde ihr eine Bescheinigung ausstellen,
daß ich auf amerikanischem Boden geboren war. Drei Jahre später fiel sie den
Einwanderungsbehörden in die Hände und wurde zusammen mit meiner Schwester
deportiert. Ich blieb bei meiner Tante. Ich war ja amerikanische Bürgerin.«
    Während ihres Berichtes hatte ich auf
irgendein Anzeichen von Gefühlen gewartet, die vielleicht im Gegensatz zu ihrer
glatten, eingeübten Schilderung gestanden hätten. Doch ich sah nur ein dünnes,
bitteres Lächeln. Hatte sie sich so gut unter Kontrolle? Ihre Geschichte hätte
sie zornig machen müssen. Aber in welcher Absicht hatte sie sie mir überhaupt
erzählt?
    Im selben leidenschaftslosen Ton fuhr
sie fort: »Meine Mutter starb ein paar Jahre später in Tijuana. Ich kann mich
kaum an sie erinnern. Meine Schwester haßt mich bis zum heutigen Tag, obwohl
ich wiederholt versucht habe, ihr zu helfen. Ich kann ihr das nicht vorwerfen.
Schließlich war ich es, die bleiben durfte.«
    Nun entdeckte ich doch ein leichtes
Zittern in ihren Mundwinkeln. Ihr Blick verdunkelte sich. Die Geschichte war
wahr, aber irgend etwas fehlte ihr.
    Ich wollte sprechen, aber Gloria bat
mich mit einer Handbewegung zu schweigen. »Ich weiß, dies scheint in keinem
Zusammenhang mit der Annahme oder Ablehnung Ihrer Beförderung zu stehen. Aber
lassen Sie mich bitte fortfahren.«
    Ich nickte, denn mein Interesse an
ihrer Geschichte und an ihrem Motiv, sie mir zu erzählen, war geweckt.
    »Meine Tante sorgte dafür, daß ich zur
Schule ging, auch wenn wir immer wieder umziehen mußten, von einer Hütte zur
anderen, zwischen der kanadischen Grenze und dem Riverside County. Als ich
fünfzehn war, konnten wir uns in der Nähe von Marysville niederlassen. In der
High-School dort war ein Lehrer, der darauf bestand, daß ich aufs College ging.
Er beschaffte mir ein Stipendium an der Universität von Oregon in Eugene. Ich
war eine gute Schülerin und ging anschließend mit einem weiteren Stipendium an
die juristische Fakultät. In meinem Abschlußjahr verliebte ich mich — oder
glaubte das zumindest. Er war ›Anglo‹, und seine Familie war wohlhabend. Als
sie erfuhren, daß ich schwanger war, schickten sie ihn per Schiff für ein Jahr
nach Europa. Sie wollten keine Illegale aus Mexiko, wie sie mich nannten, zur
Schwiegertochter.«
    Ich ließ einen unwillkürlichen
Mitleidsseufzer hören. Glorias Blick verhärtete sich, und sie sprach weiter,
etwas schneller jetzt.
    »Ich bekam eine Tochter und nannte sie
Teresa, nach meiner Mutter. Ich zog in ein Frauenwohnheim in Eugene, wo wir uns
während der Vorlesungen gegenseitig bei der Versorgung unserer Kinder halfen.
Nach meinem Abschluß arbeitete ich eine Weile bei der Anwaltskammer und anschließend
in einer kleinen progressiven Kanzlei in Portland. Dort habe ich dann von
diesem Job hier gehört, es

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