Wölfe und Kojoten
Bohnen, Reis und eine Vielzahl
von Pfeffersorten lagen gleichberechtigt neben Hamburger-Gewürzmischungen,
Thunfischdosen und Kartoffeln aus Idaho. Der größte Teil des Warenangebots
bestand allerdings aus Bier, Schokoriegeln, Chips und Zigaretten.
Bis auf eine junge Mutter mit einem
Baby und zwei Kleinkindern, die schon so früh auf den Beinen war, war niemand
in der Halle. Ich ging direkt auf die Theke zu und zeigte dem schwergewichtigen
Latino hinter der Kasse meinen Ausweis. Er warf einen Blick darauf und starrte
mich dann mit hartem, unbewegtem Ausdruck an. Als ich ihm Hys Foto hinhielt und
fragte, ob er diesen Mann am Sonntag abend hier gesehen habe, zuckte er mit den
Schultern, wandte sich ab und murmelte: »No tengo inglés.«
Natürlich nicht, dachte ich ironisch,
denn schließlich lag die ›Union-Tribune‹ mit aufgeschlagenem Sportteil neben
ihm. Doch ich ließ mich darauf ein und kramte die Spanischkenntnisse hervor,
die ich noch aus der High-School-Zeit und von meinen Einsätzen in San
Franciscos Mission District parat hatte: »En domingo, está aquí?«
Er sah mich an, als spräche ich mit
fremder Zunge.
Ich wiederholte die Frage.
Er zuckte mit den Schultern und spielte
den Verwirrten.
»Sehen Sie«, sagte ich und zeigte auf
die Zeitung, »ich weiß, daß Sie englisch sprechen. Das hier hat nichts mit
Ihnen zu tun oder mit dem, was da draußen auf dem Parkplatz vor sich geht. Ich
möchte nur wissen, ob Sie diesen Mann am Sonntag abend hier gesehen haben.«
»No tengo inglés,«
Ich zog einen Zwanziger aus der Tasche
und schob ihn ihm über die Theke.
Er betrachtete ihn, schüttelte den Kopf
und schob ihn mir zurück. Ernster Widerstand also. Wegen dieses illegalen
Arbeitsmarktes — oder aus einem ganz anderen Grund, der mit Hys Aufkreuzen hier
zu tun hatte?
Ich legte noch einen Zwanziger drauf
und sah ihn fragend an.
Er schüttelte den Kopf und wandte sich
ab.
Ich steckte die Scheine wieder ein und
ging hinaus. Die meisten Männer hatten den Parkplatz jetzt verlassen, und die
übriggebliebenen verfolgten mit starrem, hoffnungslosem Gesichtsausdruck jeden
Lastwagen, der auf der Palm Avenue vorüberfuhr. Einen Augenblick lang dachte
ich daran, sie zu befragen, ließ den Gedanken aber schnell wieder fallen. No
tengo inglés — und außerdem war bestimmt keiner von denen am Sonntag hier
gewesen. Ich ging an ihnen vorbei. Bis zu meinem Wagen spürte ich, wie mir ihre
angstvollen und hungrigen Blicke folgten.
Für die Rückfahrt nach San Diego nahm
ich einen anderen Weg. Ich fuhr die Palm Avenue nach Westen, vorbei an
Fast-food-Restaurants, Schnapsläden und Bars, die hauptsächlich die Soldaten
versorgten, und folgte dann dem Silver Strand nach Coronado Island. Die Gegend
an der Glorietta Bay war viel dichter bebaut, als ich in Erinnerung hatte.
Besonders überraschte mich, daß auch das Hotel Casa del Rey abgerissen worden war
und einem weiteren Komplex mit Eigentumswohnungen Platz gemacht hatte. In dem
Hotel hatte einst bei einer Tagung von Privatdetektiven einer meiner
schmerzlichsten Fälle — im wahrsten Sinne des Wortes — begonnen. Gott sei Dank
hatten die Städteplaner bisher noch nicht den Nerv gehabt, an das ehrwürdige
Hotel Del Coronado zu rühren, das nun ganz allein dastand in seiner
viktorianischen Pracht.
Während ich zwischen den geschwungenen
Spannseilen der Brücke hindurch von Coronado nach San Diego hineinfuhr, dachte
ich angestrengt über die Sackgasse Holiday Market nach. Die Reaktion des
Ladenbesitzers auf meine Frage nach Hy war unmißverständlich. Ihn würde ich
nicht zum Reden bringen. Gab es eine andere Möglichkeit, an ihn heranzukommen?
Ich mußte jemanden aus seinem Umfeld finden, dem er möglicherweise vertraute...
Gut, eine Lösung drängte sich
geradezu auf. Doch damit würde ich eine Grundregel meiner Arbeit verletzen:
Wenn die Möglichkeit einer Gefahr besteht, ziehe nie, nicht einmal ansatzweise,
Familienmitglieder oder andere Menschen hinein, an denen dir etwas liegt.
Ich versuchte, die Gefahr abzuschätzen.
Die RKI-Leute hatte ich mit Sicherheit abgeschüttelt. Niemand hatte am Morgen
vor dem Haus meines Vaters gewartet, und niemand war mir gefolgt. Ich war ein
kalkuliertes Risiko eingegangen, jedoch eines mit guten Erfolgsaussichten. Was
konnte RKI denn wirklich unternehmen? Würden sie meinen kräftigen, einsneunzig
großen, in den Umgangsformen der Straße erfahrenen Bruder foltern, bis er ihnen
verriet, wo ich steckte?
Ich bog in den San
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